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Vor dem Abgrund: Historischer Roman (German Edition)

Vor dem Abgrund: Historischer Roman (German Edition)

Titel: Vor dem Abgrund: Historischer Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Finnek
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schon!«, beharrte ich und betupfte mein Muttermal auf der Wange. Es brannte fürchterlich, doch irgendwie fühlte es sich gut an. Wie eine verdiente Strafe.
    »Und wenn schon?«, echote Simeon und griff eisern nach meiner Hand, dass mir der Schmerz bis in die Schulter fuhr. »Glaubst du, das ist ein Spiel? So eine Art Zeitvertreib für gelangweilte Bengel? Du bist hier nicht in deinem Gentlemen’s Club, wo sich jeder Lackaffe für einen Dichterfürsten hält! Denkst du wirklich, es macht Spaß, Hunger zu haben und nicht zu wissen, wie man den nächsten Tag überstehen soll? Glaub mir, Armut ist zum Kotzen!« Er klopfte seine Pfeife aus und verstaute sie in der Jackentasche. »Kunst muss man sich leisten können, mein Lieber. Oder man muss sie erleiden können. Dazwischen gibt es nichts.«
    »Wer redet von Kunst?«, erwiderte ich, obwohl ich mir insgeheim eingestehen musste, dass ich genau davon geredet hatte. »Dann schreib ich eben für eine Zeitung. Gibt ja mehr als genug davon. Was die Stümper da jeden Tag zusammenkritzeln, krieg ich allemal aufs Papier.«
    Simeon lehnte sich wieder zurück und presste missbilligend die Lippen aufeinander. Es hatte beinahe den Anschein, als hätte ich ihn mit meinen unausgegorenen Plänen zutiefst beleidigt. Oder hatte er womöglich bloß Angst, einen potenten Geldgeber zu verlieren?
    »Ich muss gehen«, sagte er, setzte sich zum Abschied die Flasche Gin an den Mund und nahm einen großen Schluck. »Melde dich, wenn du wieder zur Vernunft gekommen bist.«
    »Jetzt sei nicht eingeschnappt!«
    »Das bin ich nicht«, antwortete er und stand auf. »Aber erwarte bitte nicht, dass ich dir auch noch auf die Schulter klopfe, wenn du gerade dabei bist, dein Leben zu ruinieren.«
    »Da gibt es nichts mehr zu ruinieren.«
    »Hast du eine Ahnung, Rupert! Du weißt ja gar nicht, wovon du sprichst.« Er fuhr sich über den verfilzten Vollbart, hob die Hand zum Gruß und wandte sich zur Tür. »Mach’s gut, mein Freund!«
    »Eine Frage noch«, hielt ich ihn zurück.
    »Ja?«
    »Woher kanntest du es?«
    »Woher kannte ich was? «
    »Das Mädchen«, antwortete ich und drückte meine Zigarette aus. »Vorhin beim Fackelzug. Das Mädchen, das mich in der Brick Lane umgestoßen hat. Du hast gesagt, du hättest das Gesicht schon mal gesehen.«
    Simeon nickte nachdenklich.
    »Also?«, fragte ich. »Woher?«
    »Ich habe es gemalt.«
    »Das Mädchen?«
    Er schüttelte den Kopf. »Das Gesicht.«
    »Wann?«
    »Vor acht Jahren vielleicht.«
    »Aber da war das Mädchen ja noch ein kleines Kind.«
    »Eben«, antwortete er und hob erneut die Hand zum Gruß. »Bis bald, Rupert! Und danke für den Gin.« Mit diesen Worten verließ er das Britannia.
    Unschlüssig und verwirrt blieb ich am Tisch sitzen. Ich schaute aus dem Fenster und sah Simeon die Straße überqueren, in Richtung Ten Bells, wo sich die Lage sichtlich entspannt hatte. Vermutlich spekulierte er auf einen weiteren Gratis-Schnaps. Einen, der ihm nicht die Laune verdarb.
    Ich leerte meinen Bierkrug und dachte über das nach, was Simeon gesagt hatte. Über Eva Booth und das unbekannte Mädchen. Vor allem die Tochter des Generals wollte mir nicht aus dem Kopf, immer wieder sah ich ihren beinahe angewiderten Blick, spürte die Ohrfeige auf meiner Wange und hörte sie sagen: »Satan!« Doch sosehr ich auch grübelte und mir das Hirn zermarterte, mir wollte einfach nicht einfallen, wo ich ihr schon einmal begegnet sein könnte. Womöglich hatte sie mich irgendwo gesehen oder erlebt, ohne dass ich sie wahrgenommen hatte. Doch was hatte ich angestellt, das ihr seltsames Verhalten rechtfertigte? Was glaubte sie über mich zu wissen, das mir selbst unbekannt war?
    Dass sie mich in betrunkenem oder berauschtem Zustand in irgendeiner Kneipe oder Opiumhöhle gesehen hatte, war durchaus denkbar. Schließlich predigten die Heilsarmisten gern in zwielichtigen Kaschemmen, um die verlorenen Seelen auf den Pfad der Tugend zurückzubringen. Aber konnte das allein ein Grund sein, mich einen Satan zu nennen? Wäre es nicht viel eher ein Anlass gewesen, mich bekehren und zu einem besseren Menschen machen zu wollen, wie sie es in ihrer Rede behauptet hatte?
    Es war zum Verrücktwerden, und je länger ich darüber nachdachte, desto klarer wurde mir, dass mir ihre heftige Abneigung einen Stich ins Herz versetzte und dass ich den eigentlich belanglosen Vorfall vor dem Ten Bells nicht als lustige oder nichtige Episode abtun konnte. So fremd und unbekannt mir Eva Booth auch

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