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Vor dem Abgrund: Historischer Roman (German Edition)

Vor dem Abgrund: Historischer Roman (German Edition)

Titel: Vor dem Abgrund: Historischer Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Finnek
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ein rüstiger älterer Herr neben Celia einer ebenfalls älteren Dame zu, die zuvor etwas gelangweilt ausgesehen hatte, nun aber einen hellwachen Eindruck machte und der Männergruppe interessiert hinterherschaute. Ihre Miene wirkte mit einem Mal ebenso empört wie erregt.
    » Der Swinburne?«, fragte sie und bog einen Palmwedel zur Seite, um besser sehen zu können. »Das kleine Kerlchen da? Sind Sie sicher?«
    Der rüstige Herr nickte vielsagend.
    »Na, so was«, antwortete die Frau und schnalzte undamenhaft mit der Zunge.
    »Entschuldigung«, wandte sich Celia an den Mann. »Wer ist dieser Swinburne?«
    »Algernon Swinburne«, erklärte der Mann mit feierlichem Ton. »Ein großer Dichter unserer Zeit. Jedenfalls war er das einmal. Inzwischen ist es ruhiger um ihn geworden.«
    »Ein skandalöser Dichter«, verbesserte die Frau und räusperte sich, als wäre allein ihr Wissen darum ein Skandal.
    »Nie von ihm gehört«, murmelte Celia.
    »Das wundert mich nicht«, sagte der Mann und fuhr sich über den grauen Backenbart. »Seine Gedichte waren ein wenig freizügig und drastisch. Nichts für junge Backfische.«
    »Freizügig?«, empörte sich die Frau und verdrehte die Augen. »Gotteslästerlich und obszön waren sie. Schmutzig und wider jede Natur.« Erneut räusperte sie sich und setzte eilig hinzu: »Das habe ich jedenfalls gehört.«
    »Aber große Poesie«, beharrte der Mann. »Ein wenig derb und gewagt, das will ich gern zugeben, aber von hoher Kunst.« Mit diesem Kommentar und einem abschließenden Kopfnicken empfahl er sich und ging davon.
    Die ältere Dame schnaufte abfällig, wandte sich nun ihrerseits an Celia und sagte hinter vorgehaltener Hand: »Von wegen ›gewagt‹. Sündhaft und abscheulich war das, wenn du mich fragst, sonst nichts!« Damit verschwand sie hinter der Palme, hielt Ausschau und folgte neugierig der kleinen Gruppe um den Skandaldichter.
    Celia blieb an Ort und Stelle stehen und schaute auf das Gemälde. Der sehnsüchtige Blick des Jünglings mit den Flügeln ließ sie nicht los. Den gleichen Blick hatte sie im Gesicht des bärtigen Mannes gesehen. Bittere Tränen auf den verschmutzten Wangen. »Wie begnadet er war und wie tief er fiel«, hatte der Dichter Swinburne über den Maler Solomon gesagt. Der betrunkene Mann mit dem Bart hatte ihn mit einer Mischung aus Furcht und Zorn angeschaut. Wie ein getretener Hund, der sich nicht zu beißen traut. »Ich kannte deine Mutter nicht«, hatte er auf ihre Frage geantwortet. »Ich bin ihr nie begegnet.« Und trotzdem hatte er sie in Celia wiedererkannt. Fragte sich nur, wie so etwas möglich war.
    Celia riss sich vom Anblick des Bildes los und verließ den Wintergarten durch den Hinterausgang. Der eisige Wind fegte über den Vorplatz und wirbelte Blätter und Papierfetzen auf. Es hatte angefangen zu regnen. Celia schlug den Kragen ihres Mantels hoch. Es war noch ein weiter Weg bis Spitalfields.

SONNTAG, 21. OKTOBER 1888
    9
    Irgendwann hatte Celia einmal gehört, der Schlaf sei der Zwillingsbruder des Todes. Vermutlich hatte ihre Mutter das gesagt, sie hatte solche Sinnsprüche geliebt. Oder der alte Pfarrer von All Saints hatte es in einer seiner langatmigen Predigten erwähnt. Als Celia am Morgen in ihrem Sargbett in der Hanbury Street aufwachte, glaubte sie jedenfalls zu wissen, was damit gemeint war. Selten hatte sie so fest und traumlos geschlafen wie in der vergangenen Nacht, was umso erstaunlicher war, da der vorherige Tag derart aufregend und verstörend für sie gewesen war. Als sie gegen Mitternacht unter die dünne Bettdecke geschlüpft war, hatte ihr der Kopf geschwirrt, die Gedanken waren wie Flöhe darin herumgehüpft. Celia hatte sich darauf gefasst gemacht, in der Nacht von Alpträumen und Nachtmahren heimgesucht zu werden, doch das Gegenteil war der Fall gewesen. Sie war auf der Stelle eingeschlafen, war wie in eine Ohnmacht gefallen und erst weit nach Sonnenaufgang aufgewacht, ohne die geringste Erinnerung an böse Träume oder schweißnasses Hochschrecken aus dem Schlaf. Celia fühlte sich erstaunlich frisch und erholt, gerade so, als wären die Ereignisse des gestrigen Tages wie weggeblasen. Als hätte es sie nie gegeben.
    Heathers Bett an der Wand war leer gewesen, als Celia den Schlafraum betreten hatte. Auch jetzt war das Bettzeug in dem Kasten nebenan noch immer unberührt. Nachdem sich Celia im Waschraum gewaschen und mit dem letzten Zahnpulver die Zähne gesäubert hatte, besah sie ihr Gesicht im Spiegel. Adams

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