Vor dem Abgrund: Historischer Roman (German Edition)
obwohl sie es gleichzeitig als beeindruckend und imponierend empfand.
Eigentlich hatte Celia den Wintergarten nur aufgesucht, um nach dem schäbig gekleideten Mann mit dem Raubvogelgesicht Ausschau zu halten. Doch kaum hatte sie den großen, von exotischen Grünpflanzen überwucherten Raum betreten, durch dessen gläserne Decke man den hoch am Himmel stehenden Mond sehen konnte, schon waren die Bilder und Skulpturen wie wilde Tiere hinter dem Grünzeug hervorgestürmt und hatten an ihr gezerrt und genagt, bis Celia der Kopf weh tat und die Gedanken schwirrten. Da gab es gleißende Landschaften, die nur aus zusammenhangslosen Pinselstrichen bestanden, aber dennoch den Eindruck der unterschiedlichen Gelände erstaunlich genau wiedergaben. Ähnlich war es bei den Porträts, die auf Celia fast grobschlächtig wirkten, jedenfalls ganz anders als die strengen und detailgetreuen Darstellungen, die sie aus dem Pfarrhaus von All Saints in Brightlingsea kannte. Auch Bilder vom Meer und von Flusslandschaften waren ausgestellt, aber sie hatten so wenig mit den heroischen Gemälden gemein, die Celia von zu Hause kannte, dass sie sich einfach nicht vorstellen konnte, wer solch ein Bild in Auftrag geben sollte. Doch vielleicht war genau dies das Geheimnis der Bilder: Sie waren in keinem Auftrag gemalt worden, sondern allein dem Wunsch und Verlangen des Malers entsprungen. Sie erfüllten keinen fremden Zweck, sie genügten sich selbst, und das war Celia unheimlich – und begeisterte sie zugleich.
In dem Gewimmel von Menschen, Pflanzen, Skulpturen und Gemälden hätte Celia den Mann mit dem zotteligen Vollbart beinahe gar nicht bemerkt. Er stand in einer hinteren Ecke des Raumes, regelrecht versteckt hinter einem palmenartigen Gewächs, dessen lange Wedel seltsame Schatten an die Wand warfen. Der Mann rührte sich nicht vom Fleck, hielt seinen speckigen Schlapphut andächtig vor der Brust und starrte wie verhext auf ein in dunklen Brauntönen gehaltenes Bildnis, das einen jungen Mann mit Flügeln zeigte.
Eigentlich hatte Celia vorgehabt, dem Fremden durch den Wintergarten zu folgen und ihn auch anschließend nicht aus den Augen zu lassen, um mehr über ihn herauszufinden, etwa, wo er wohnte. Was sie mit diesen Informationen anfangen wollte, wusste sie selbst noch nicht so genau, doch der Blick, mit dem der Mann sie gestern angeschaut hatte, ging ihr immer noch durch Mark und Bein, und sie wollte herausfinden, was es damit auf sich hatte. So lautete zumindest ihr etwas unausgegorener Plan.
Tatsächlich aber war es Celia überhaupt nicht möglich, dem Bärtigen durch den Wintergarten zu folgen, weil er sich kein bisschen von der Stelle bewegte. Wie angewurzelt schaute er auf dieses eine Gemälde und schien nichts um sich herum wahrzunehmen. Es kümmerte ihn nicht, dass er anderen die Sicht nahm und diese ihren Unmut zum Teil laut zum Ausdruck brachten. Es scherte ihn auch nicht, dass manche Besucher eher den kauzigen Kerl als das Gemälde des halbnackten Flügelwesens beäugten. Er schien wie weggetreten.
Auch als sich ihm Celia von der Seite so stark näherte, dass sie bereits einen unangenehmen Dunst von Alkohol und Schweiß wahrnehmen konnte, schien der Mann sie nicht zu bemerken. Stattdessen stierte er das Bild an, auf dem der Engel in einer Herbstlandschaft am Meer stand, eine Art Laken oder Tuch um die Hüften geschlungen und mit einem sehnsüchtig-traurigen Blick. Die Blätter fielen von den umstehenden Bäumen und umschwirrten den merkwürdigen Engel wie die Vögel den heiligen Franziskus. Celia hatte keine Ahnung, was dieses Gemälde bedeuten sollte, doch als sie den bärtigen Betrachter mit dem Engel auf dem Bild verglich, bemerkte sie, dass dieselbe Art von Traurigkeit oder Sehnsucht in ihren Blicken lag. Einerseits in dem übertrieben schönen Antlitz eines geflügelten Jünglings, andererseits im Gesicht eines verlotterten und hässlichen Kauzes.
Es mag sein, dass Celia dem Mann zu nahe gekommen war, jedenfalls wandte er sich plötzlich um und sah ihr direkt aus nächster Nähe ins Gesicht. Doch anders als am Vortag blieb sein Blick völlig ausdruckslos, kein Zeichen des Wiedererkennens oder der Vertrautheit war zu sehen. Dafür bemerkte Celia, dass dem Mann die Tränen über die schmutzigen Wangen liefen und an den Barthaaren hängen blieben. Er weinte ebenso bitterlich wie stumm. Genauso hatte Celia vor wenigen Wochen am Grab ihrer Mutter geweint, äußerlich wie zu Stein erstarrt, aber mit heißen Tränen, die
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