Vor dem Abgrund: Historischer Roman (German Edition)
wollte. Selbst wenn es ihr gelänge, ihn im Gewimmel der nächtlichen Straßen zu entdecken, hätte sie nicht recht gewusst, was sie eigentlich von ihm wollte. Oder wie sie ihn zum Reden bewegen könnte.
Ihr Blick ging wieder zur Empore am Durchgang zum Hauptgebäude, doch auch die kleine Gruppe mit dem Hutzelmann war nicht mehr zu sehen. Also schaute Celia zu dem Gemälde, das der Bärtige so eingehend betrachtet hatte. Weil der Mann nun nicht mehr die Sicht auf das Bild nahm, sah Celia jetzt auch das kleine Messingschild, das unten am Rahmen angebracht war: »Simeon Solomon, Liebe im Herbst, 1866«. Celia verstand nicht ganz, ob der junge Mann mit den Flügeln einen enttäuschten Liebenden oder die Liebe selbst darstellen sollte und ob der Herbst nun wortwörtlich oder nur sinnbildlich zu verstehen war. Ein seltsames und verwirrendes Bild, fand Celia, zugleich aber drückte es eine melancholische Stimmung aus, der sie sich kaum entziehen konnte.
In der unteren linken Ecke war das Gemälde auf eine eigenwillige Weise signiert, mit einem doppelten S, das sich um einen senkrechten Stab wand. Die Signatur erinnerte an das Schlangenzeichen, das Celia von Arzthäusern und Hospitälern kannte. Darunter stand die Jahreszahl 1866 und der Ortsname Florenz. Der Maler mit dem klangvollen Namen Simeon Solomon war also vermutlich Italiener.
»Der arme Solomon, ein verlorenes Genie«, hörte Celia in diesem Augenblick eine hohe, gezierte Stimme hinter sich, die an den Singsang eines Vogels erinnerte. »Wie begnadet er war und wie tief er fiel. Es ist eine wahre Schande. Eine unbegreifliche Tragödie.«
Als Celia sich umschaute, hätte sie beinahe laut aufgeschrien. Direkt hinter ihr stand das Hutzelmännchen und schüttelte mit gepressten Lippen den viel zu großen Kopf. Aus der Nähe betrachtet wirkte der kleine Mann, dessen Alter kaum zu schätzen war, noch unheimlicher als aus der Ferne. Sein Gesicht war eingefallen, die große Nase ragte wie ein Bugspriet hervor, der zerzauste Spitzbart betonte das markante Kinn, und seine Gesichtsfarbe erinnerte an Kalk. Es hatte den Anschein, als hätte der Mann eine lange und schwere Krankheit hinter sich. Aber seine Augen funkelten wild und lebendig, und auch sein quirliges Stimmchen widersprach der offenkundigen Gebrechlichkeit.
»Geh doch mal weg da, Mädchen!«, sagte der Mann im Frack, der sich wichtigtuerisch nach vorne schob und Celia gleichzeitig zur Seite drängte. Er beugte sich zu dem Hutzelmann hinunter und sagte: »Sie waren mit ihm befreundet, nicht wahr?«
»Befreundet? Das wäre dann doch übertrieben«, trällerte der Kleine demonstrativ belustigt, doch seine Augen straften die zur Schau getragene Heiterkeit Lügen. »Unsere Wege haben sich gekreuzt, doch unglücklicherweise führte Mr. Solomons Pfad in die falsche Richtung. Er war ein großer Künstler, aber ein schwacher Mensch. Was das Ganze umso bedauerlicher macht.«
Von irgendwoher kam ein seltsames Knurren, doch als Celia sich umwandte, konnte sie nichts oder niemanden erkennen.
»Ist er denn schon tot?«, wunderte sich ein anderer Mann aus der Gruppe.
»Er mag noch leben«, antwortete der Kleine und wirkte nun regelrecht angewidert. »Aber für mich ist er vor vielen Jahren gestorben.«
»Sehr verständlich«, pflichtete ihm der Mann im Frack bei.
»Simeon Solomon«, sagte ein weiterer Mann aus der Gruppe, der bislang geschwiegen hatte, und lachte anzüglich. »Oder sollte man sagen: Sodomon.«
»Ich muss doch sehr bitten«, entfuhr es dem Kleinen. »Wir sollten keine Witze über jene machen, die ohnehin am Boden liegen. Das wäre schäbig und unwürdig.« Seltsamerweise lächelte er dennoch affektiert, zwinkerte dem Mann, der die Bemerkung gemacht hatte, verschwörerisch zu und gab anschließend dem Frackträger mit einem Kopfnicken zu verstehen, dass er genug von der »Liebe im Herbst« gesehen hatte und weitergeführt werden wollte.
Celia hatte das Gespräch der Männer mit einem seltsamen Unbehagen verfolgt und war geradezu erleichtert, als sich die Gruppe einem anderen Gemälde zuwandte und hinter dem nächsten Palmengewächs verschwand. Sie hatte zwar nicht genau verstanden, worüber sich die Männer unterhalten hatten, aber es hatte in ihren Ohren so aufgesetzt und falsch geklungen, dass sich ihr die Nackenhaare aufgestellt hatten. Das Gemälde selbst hatten die Männer gar nicht richtig in Augenschein genommen, sondern sich lediglich über dessen Maler mokiert.
»Das war Swinburne«, raunte
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