Vor dem Abgrund: Historischer Roman (German Edition)
auf ihren Wangen glühten und ihren wahren Gemütszustand verrieten.
Der Gedanke an ihre Mutter ließ Celia all ihren Mut zusammennehmen. Mit leiser Stimme wandte sie sich an den Fremden: »Entschuldigen Sie bitte, Sir. Woher kennen Sie meine Mutter?« Dass der Mann nicht sie, Celia, so seltsam angeschaut, sondern vielmehr in ihr das Abbild ihrer Mutter erkannt hatte, war Celia am Nachmittag klar geworden, als sie zum ersten Mal die Fotografie der jungen Mary Tremain gesehen hatte.
Da der Mann nicht auf die Frage reagierte, kam Celia ihm noch ein Stück näher und sagte: »Sie kannten meine Mutter, nicht wahr?« Diesmal war es eine Feststellung und keine Frage.
Der Bärtige schien wie aus einem Traum aufzuwachen. Er schüttelte sich, als fröstelte er, dann kniff er die Augen zusammen und nickte schließlich. Allerdings war es eher ein Zeichen des Erinnerns als der Bestätigung.
»Du bist das«, brummte er unfreundlich und fuhr sich mit beiden Händen durchs Gesicht, um die Spuren seiner Tränen zu verwischen. Dann setzte er nachdenklich hinzu: »Deine Mutter. Verstehe.«
»Woher?«, hakte Celia nach.
»Was?«, schnauzte er.
»Woher kannten Sie sie?«
»Ich kannte deine Mutter nicht.« Er betonte das Wort auf seltsame Weise und lachte, als hätte er einen Witz gemacht. »Ich bin ihr nie begegnet.«
»Aber Sie haben doch gerade gesagt …«
»Und wenn schon!«, unterbrach er sie und schleuderte ihr dabei die Spucke ins Gesicht. Erst jetzt begriff Celia, dass der Mann völlig betrunken war. Er schwankte auf der Stelle und grinste blöde vor sich hin.
»Was heißt das?«, wollte Celia wissen.
»Lass mich, Mädchen!«, antwortete er, winkte ungeduldig ab und wollte sich wieder dem Gemälde an der Wand zuwenden, doch er blieb mitten in der Bewegung stecken und starrte auf etwas, das sich hinter Celias Rücken ereignete. War sein Blick zuvor verärgert oder mürrisch gewesen, vielleicht auch ein wenig irritiert, so wandelte sich dieser Blick beinahe schlagartig. Was Celia nun in seinem Gesicht wahrnahm, erstaunte sie. Er hatte die Augen weit aufgerissen, als sähe er ein Gespenst, sein Blick war beinahe panisch. Zugleich aber zuckten seine Mundwinkel vor Wut und Zorn, seine Kiefer mahlten unruhig, und seine Nasenflügel bebten. Ein seltsamer Widerspruch. Wäre der Mann ein Hund gewesen, so hätte er vermutlich die Zähne gefletscht und gleichzeitig den Schwanz eingekniffen.
Celias Augen folgten dem Blick des Fremden zum Eingang des Wintergartens, wo eine kleine Gruppe von Männern gut sichtbar auf einer Empore neben dem Durchgang stand. Einer der Männer trug einen Frack mit langen Schößen und wies gestenreich auf verschiedene Gegenstände im Raum, wobei jedoch nicht klar war, ob er seinen Zuhörern die Botanik oder die Kunstwerke erklärte. Offensichtlich war jedoch, dass er sich vor allem an eine äußerst eigentümliche Person wandte, die direkt neben ihm stand. Dieser Mann fiel nicht nur durch seine extravagante Kleidung und einen riesigen weißen Strohhut auf, sondern vor allem durch seine Größe. Oder besser gesagt, durch seine nicht vorhandene Größe. Der Mann war höchstens fünf Fuß groß, und die Proportionen seines Körpers wirkten irgendwie unstimmig. Seine Beine waren viel zu dünn und erinnerten an die eines Knaben, dafür schien sein Kopf um einiges zu groß für den Rest des Körpers, was durch den breitkrempigen Strohhut noch verstärkt wurde. Ein verwachsenes Hutzelmännchen, das sich zudem auf einen Gehstock stützte, der nicht nur modischen Zwecken zu dienen schien. Kaum anzunehmen, ging es Celia durch den Kopf, dass dieser Zwerg eine panische Reaktion hervorrufen konnte. Vielleicht war es ja der Anblick des Manns im Frack gewesen, der den Bärtigen so erregt hatte.
Als sich Celia umdrehte, um sich wieder dem Fremden zuzuwenden, stellte sie erschrocken fest, dass er verschwunden war. Sie hatte sich nur wenige Sekunden abgewandt, doch der Rauschebart war plötzlich wie vom Erdboden verschluckt. Nur sein unangenehmer Geruch hing noch in der Luft. Aus den Augenwinkeln glaubte Celia einen Schatten zum Hinterausgang des Wintergartens huschen zu sehen, der direkt zum Vorplatz des People’s Palace führte. Für einen kurzen Moment überlegte sie, ob sie ebenfalls hinausrennen und draußen nach dem Mann suchen sollte. Doch dann wurde ihr klar, wie albern und unnütz ein solches Verhalten wäre. Der Bärtige hatte ihr unmissverständlich zu verstehen gegeben, dass er nicht mit ihr reden
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