Vor dem Fest
Mantel.
ZERHAUE SIE IN TAUSEND STUECKEN
WEIL ICHS IM NAMEN GOTTES KANN
auf Brunos .
Unsere Hauptglocke hat keinen christlichen Namen. Der Glöckner nennt sie die Alte . Ein massiver, fast schwarzer Brocken, mit einem mächtigen Klöppel, Baujahr ungewiss.
Die Zwillinge kommen klanglich bestens miteinander aus. Die Alte kommt am liebsten mit Schweigen aus. Das siehst du ihr an. Wie sie vor sich hinbrütet im ewigen Halbdunkel der Glockenstube, wie träge sie ins Wiegen kommt und wie trocken sie nachklingt. Wir ahnen, sie könnte lauter sein, tiefer, mehr, doch fehlt ihr dafür das Publikum. Oder ein triftiger Grund. Oder Kraft.
Sie ist nicht verziert, der Name des Gießers oder des Stifters, wie es bisweilen Sitte war, fehlt. Eine unscheinbare Inschrift innen am Mantel, die Buchstaben ungleich groß wie von Kinderhand, verkündet:
GEDULDIG SEI IM TRUEBSAL
Der Glöckner und Johann überreden die drei selten zum gemeinsamen Cimbelgeläut. Der Glöckner bedient die Alte und Bruno, der Lehrling – Bonifatius . Wenn die Alte sich mal vergisst, horcht unten ganz Fürstenfelde auf. Heute ist was los, das hören die Leute.
Frau Schwermuth erzählt zwei Geschichten über die Alte . In der ersten läutet die schwarze Glocke mitten in der Nacht, das ist irgendwann im 16. Jahrhundert, und da sie nicht aufhören will, versammelt sich immer mehr Volk in der Kirche. Dort ist aber kein Glöckner, niemand zieht an den Seilen. Das Volk hat Angst vor der beseelten Glocke, da fegt plötzlich ein großer Sturm über das Dorf, zerstört Häuser, Menschen werden unter Bäumen begraben, Dutzende verletzt. Diejenigen, die sich in der Kirche eingefunden haben, bleiben unversehrt.
Die zweite Geschichte geht so: 1740 mitten in der Nacht läutet die schwarze Glocke, und da sie nicht aufhören will, versammelt sich immer mehr Volk in der Kirche, wieder ist dort niemand etc. Da erzählt der Stadtschäfer den Anwesenden die erste Geschichte – von der schwarzen Glocke, die das Volk ruft, damit es im Gotteshaus Zuflucht findet vor dem Sturm. Auf einmal sind von draußen Schreie zu hören, die Stadt brennt! Einige eilen hinaus, die zurück Gebliebenen zu retten, die meisten bleiben im Kirchenschiff und wähnen sich sicher auf dem Meer aus Flammen. Das Feuer brennt alles nieder. Viele, viele sterben, auch in der Kirche. Die schwarze Glocke thront, noch dunkler geworden, auf dem Schutt.
Wir mögen die Bezeichnung: »Stadtschäfer«.
Wir vertrauen den alten Geschichten, und wir glauben an den Wert des Kupfers.
WIR SIND UNBESORGT. Taschenlampe, Regencape, Gummistiefel, Leinwand mit dem Schirm: Frau Kranz ist gut gerüstet. Im Kranzschen Lederköfferchen, rissig, fertig, tausendundeine Wanderung alt: Aquarellfarben, Pinsel, der alte Porzellanteller zum Mischen, Klopapier. Der Proviant: eine Zigarre, eine Thermoskanne Rum mit etwas Fencheltee, eine Stulle. Die Staffelei geschultert – Lada hat eine kleine Leuchte drangebastelt extra für heute Nacht. Alles, was du brauchst, wenn du zum Malen ausziehst in einer Nacht, die Regen verspricht.
»Schmeckt das denn, Rum im Fencheltee?« Das ist der Journalist. Hat unter der Woche Frau Kranz besucht für ein Porträt zu ihrem Neunzigsten, Wochenendbeilage, Rubrik: Wir aus der Uckermark – der Nordkurier stellt vor , und manch andere spannende Frage abgeworfen, eine H-Bombe nach der anderen: Herkunft, Heimat, Hobbys, Hitler, Hoffnung, Hartz IV , in keiner spezifischen Reihenfolge. »Ja, Foto muss leider, geht fix, gut, nicht vor einem Baum, nein, von hinten ist weniger gut, ja gern einen Saft.«
Frau Kranz hängt Wäsche im Garten auf, der Journalist riecht an einem Laken.
»Fangen wir am Anfang an, Stichwort: Heimatflucht.«
»Gütiger Gott.«
»Da täte es mich interessieren, wie war das für Sie, so jung ganz Europa zu durchqueren in den Wirren des Krieges?«
Frau Kranz raucht Zigarre, trinkt Rumtee mit Fenchel, hustet in kleinen Explosionen und führt den Journalisten durch ihr Haus. Leinwände überall. Fürstenfelde überall. Klein, groß, ernst, grau, braun, leer, Nachkrieg, festiv, kollektiv, Umbau, Neubau, einst, damals, vor ein paar, heute, zu jeder Jahreszeit. Seit 1945 malt Frau Kranz ausschließlich Fürstenfelde und die Gegend.
» Paysage intime! «, rufen zwei Semester Kunstgeschichte in Greifswald, abgebrochen, weil »zu theoretisch«. Der Journalist nimmt einen Schluck Saft und verzieht das Gesicht. »Hui. Ist der selbst gemacht?«
»Das ist Holundersaft.«
»Sie sind ja
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