Vor dem Fest
dass Kirchen gern auf Hügeln gebaut wurden, weil man zu Gott nach oben gucken sollte. Johann guckt gern nach unten. Johann glaubt an gar nix. Mu meint, alle im Vatikan sind Atheisten, anders ist es nicht zu erklären, dass die so reich sein dürfen.
Und 1740: DGB . (Der Große Brand!) Ein Vorfahr hat überlebt, ein Müller namens Mertens. Sonst ist aber so ziemlich alles abgefackelt. Die Kirche hat es voll erwischt. Wie etwas aus Feldsteinen brennen kann, hat er nicht wirklich verstanden, aber gut. Wurde schnell wiederaufgebaut. Die Chronik und die alten Kirchenbücher und überhaupt Bücher waren alle hin. Schon auch schade. Die Chronik nach 1740 hat Mu abgetippt. Kann man sich im Haus der Heimat angucken. (Super fürs Rollenspiel, wenn man was über Hexen oder Kindermörder oder Räuber einbauen will.)
Die Kirche wurde in den Neunzigern renoviert. Seitdem ist alles aus Ziegelsteinen. Ziegelstein sieht irgendwie null kirchlich aus. Mal im Ernst: Ein Kamin aus Ziegelsteinen, okay. Eine Garage, okay. Hamburg, okay (Klassenfahrt letztes Jahr, trotzdem noch Jungfrau). Aber ein Altar? Mu sagt, die Neunziger waren kriminell, was Architektur und Musik angeht, man sollte die alle nachträglich einsperren, außer Nirvana .
Apropos Nirvana. In der Kirche steht eine Grüneberg-Orgel. Johann weiß das, weil er es für seine Glöckner-Prüfung lernen musste. Die ist ziemlich super. Nicht, dass er das wirklich beurteilen könnte, aber wenn einem Ding der Name seines Machers vorangestellt ist, so wie Grüneberg der Orgel, dann ist das besser als alles ohne Namen. Ein Ronaldo-Freistoß wird immer grundsätzlich erst mal geiler sein als ein Freistoß. Auch wenn Ronaldo gar nicht trifft.
Johann hört ein Knacken wie von Holz irgendwo oben aus der Kirche. Klingt fast, als kommt es aus dem Turm. Die Glocken sind ungeduldig …
Die Prüfung morgen ist nicht ganz offiziell, so wie die Lehre nicht offiziell ist, so wie auch der Beruf nicht offiziell ist, und Johann kriegt wirklich keine Kohle dafür und hat sicher »keine Zukunft damit« (meint Mu. Deswegen hat sie vorhin so rumgeschrien). Aber das heißt nicht, dass er (oder der Meister) sie nicht ernst nimmt. Johann fand Kirchenglocken schon als Fötus gut. Wenn die geläutet haben, sagt Mu, hat er gekickt. So was ist halt in dir drin. Bei anderen sind es Regionalzüge oder Hände (bei Massenmördern).
Die Theorie (Kirchen- und Glockengeschichte, Herstellung, Läut- und Schlagtechniken) hat er schon bestanden. Zur Praktischen gehört das Betläuten um zwölf und um sechs. Ist kein Problem, macht er sowieso schon allein, der Meister hat kaum noch die Kraft. Um zwölf muss er zusätzlich seine kleine Komposition beiern. Ist kein richtiger Brauch oder so, Meister mag das einfach.Er ist neunzig oder älter, und es gefällt ihm ziemlich, Meister genannt zu werden (würde er nie zugeben).
Johannfröstelt. Kälte ist eigentlich gut, hat er im Stahlkörper-Forum gelesen. Regt den Blutkreislauf an. Er liebt Internet-Foren zu abstrusen Hobbys. Rollenspiel sowieso. Mit Abstand auf der Eins ist das DDR -Bunkerforum . Hunderte Typen, die durch die Gegend fahren, sich Bunker angucken und ihre Fotos diskutieren, super. Ganz in der Nähe, auf dem Ex-Raketenstützpunkt in Wegnitz, gibt es zwei Stück. In Fürstenfelde ist einer gleich hinter dem Altersheim. Die Tapete ist ganz ähnlich wie im Altersheim. Tapeten im Bunker!
Jedenfalls.
Der Donner kommt näher. Gänsehaut. Kaum irgendwo brennt Licht. Im Pfarrhaus, der Hirtentäschel schön am Nicht-Kiffen. Die Straßen sind leer, da ist bloß die Malerin. Geht zum See runter. Mu hat mal gesagt, die ist schwer in Ordnung, aber dass auch etwas schwer nicht in Ordnung ist mit der.
Johann macht sich auf den Weg, den Glöckner abzuholen. Seit Anbeginn der Menschheitsgeschichte hat je ein Vorfahr von ihm mütterlicherseits und väterlicherseits überlebt und hat Leben gezeugt, und der Herbst ist ja jetzt da, und wenn Johann die Glocken das nächste Mal läutet, wird er fest daran glauben, dass sie, die Ahnen, sein Läuten hören können.
DREI GLOCKEN NUTZEN WIR . Die beiden kleineren sind Zwillinge: Bonifatius und Bruno . Johann nennt sie die Bienen . Sind noch jung, zwei schlanke, verspielte Burschen, heller Klang in cis’’’ und e’’’. 1926 gegossen als Ersatz für zwei bronzene Glocken, die zehn Jahre zuvor in den Krieg ziehen mussten.
LASST ALLE HEIDEN STUERMEND RUECKEN
MIT MACHT UND MUT AUF MICH HERAN
steht auf Bonifatius’
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