Vor dem Sturm (German Edition)
zusammengewachsen, seine Augen sind groß; sie wirken beinahe, als täte es ihm leid. Ich rede mir ein, dass es mir egal ist, und stelle mir vor, ich wäre so groß wie Medea, trüge ein grün-lila Gewand, geschmückt mit Knochen und Gold. Obwohl es sich seltsam anfühlt, ziehe ich meine Schultern zurück, als ich auf Skeetah zugehe, der am Rand der Lichtung zwischen Palmbüschen kniet, China etwas ins Ohr flüstert und sie dabei so kräftig streichelt, dass ihre Haut unter seiner Hand Wellen schlägt. Skeetah glättet ihr Fell und redet mit ihr. Ihr Fell sieht im Schatten silbern aus. China steht ganz still und starrt über die Lichtung. Skeetahs Zunge schnellt aus seinem Mund, und eine Rasierklinge, von der ich nicht wusste, dass er sie in der Backentasche hatte, kommt kurz zum Vorschein und gleitet über seine Zungenspitze, ehe er alles wieder einfährt. Er rezitiert irgend etwas, und er sagt es so schnell auf, dass es klingt, als würde er singen.
China White,
haucht er,
meine China. China bleich, pack zu und färb sie rot und weiß, China. Scharf wie Kokain, China, wenn sie dich einatmen, blutet ihre Nase, China. Lass sie bluten, China, kehr ihr Innerstes nach außen, China, sie solln glauben, sie hätten die Klinge gesnifft, China. Sie solln zittern, China, solln dich lieben, solln dich brauchen, China, zeig ihnen, dass sie ohne dich nicht leben können, China, so sehr sie das auch wollen. Meine China,
murmelt er:
zeig’s ihnen, zeig’s ihnen, zeig’s ihnen
.
Als Skeetah Rico auf der Lichtung gegenübertritt, hat er Chinas Kette auf dem Boden liegen lassen und das Chrom von ihremHals genommen. Sie steht an seinem rechten Bein, Ohren aufgestellt, Schwanz gerade, und rührt sich nicht. Ich könnte nicht mal sagen, ob sie atmet. Sie ist weiß, unglaublich weiß. Sie ist das reine weiße Herz einer Flamme. Kilo ist ganz rot, nur Muskel, ein schlagendes Herz auf der Lichtung. Er bellt einmal schrill, und Rico klickt die Leine los und gibt ihm einen Klaps. Kilo rennt.
»Los«, sagt Skeetah.
China schießt über die Lichtung, noch ehe Kilo in der Mitte angekommen ist, und begegnet ihm mit einem grimmigen Grollen. Für sie gibt es kein Schnappen nach Beinen oder Gesicht. Für sie gibt es nur Kilos Nacken. Sie erhebt sich mit ihm, wirft den Kopf nach vorn, beißt zu.
»Pass auf, Junge!«, schreit Rico.
China packt Kilo noch einmal hinten am Nacken. Sie taucht mit dem Gesicht in ihn ein. Als sie zurückzieht, sind ihre Kiefer geschlossen, und sie reißt ein Stück Fell ab. Sie sperrt das Maul auf, als wolle sie Luft schnappen, und versenkt dann erneut ihre Zähne.
»Komm schon, Kilo!«, schreit Rico.
Sie würde sich am liebsten mit dem Kopf in ihn hineinwühlen wie ein Wurm in die rote Erde.
»Kilo!«, schreit Rico.
Kilo duckt sich vor dem Zugriff ihres Kopfes. Er schnappt sich Chinas Bein. Es ist ein schwacher Zug, lässig, und ich vermute, Rico hat ihm das beigebracht.
»Jetzt schüttel sie durch, Junge!«, brüllt Rico.
Kilo schüttelt. China bohrt immer weiter, verwandelt das, was ein Schal war, in ein hellrotes Halstuch, aber Kilo zieht an ihrem Bein, schwenkt es hin und her; seine Muskeln kochen, sodass sein Fell nicht mehr Erde, sondern wieder Wasser ist, eine rote Flut. Er knurrt bei jedem Ruck, aber als China mit ihren messerscharfenKiefern sein Ohr und die eine Seite seines Gesichts verschluckt und zubeißt, entgleitet ihm das letzte Knurren zu einem Winseln.
»Pack sie!«, brüllt Rico.
Skeetah verschränkt seine Arme andersherum und senkt den Kopf. China küsst mit Zunge und Mund Kilos Gesicht, wie eine Geliebte, wie die Mutter den Vater, tief.
»Pack sie, verdammt noch mal!«, brüllt Rico.
»China!«, ruft Skeetah, und China lässt Kilo los, obwohl er immer noch an ihrem Fuß nagt. Sie schaut sich nach Skeetah um, als wolle sie sagen:
Ich komme, Liebster, hier bin ich
.
»Kilo!«, brüllt Rico. Er packt Kilo an den Hinterbeinen und zieht den Hund zu sich. Kilo öffnet schmatzend die Lippen, als hätte er gerade etwas Leckeres gegessen, und Chinas Bein ist frei. Sie springt zu Skeetah; ihr Lächeln ist rot, so als wäre ihr Lippenstift verschmiert. Das Blut an ihrem Bein sieht aus wie ein purpurfarbener Strumpfhalter.
»Wahnsinn! Er braucht sie nicht mal wegzuziehen«, sagt Jerome.
Rico wischt Kilos Hals ab, bis das Blut eher wie eine Halskette als wie ein Tuch aussieht. Er untersucht seinen Hund, der so heftig atmet, dass der Sand mit Spucke und Blut besprüht wird. Seine Nase berührt
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