Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Vor dem Sturm (German Edition)

Vor dem Sturm (German Edition)

Titel: Vor dem Sturm (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jesmyn Ward
Vom Netzwerk:
sie mit dem Schwanz, und er tätschelte sie an einer Stelle, die nicht rot war: an den Pfoten, am Rücken, am Schwanz. Anscheinend hat er bei ihr im Schuppen geschlafen. Ich muss Randall zwei Mal anstoßen, ehe er aufwacht. Er rollt die Augen, bis sie ganz weiß sind, und hebt schützend die Arme vors Gesicht.
    »Was denn?«, sagt er. »Was is los?«
    »Daddy is im Bad und kotzt.«
    Randall schaut mich an, als könne er mich nicht erkennen.
    »Was?«
    »Daddy. Im Bad. Ihm ist schlecht.«
    Randall nickt mir blinzelnd zu. Er wacht langsam auf.
    »Er sagt, du sollst kommen.«
    Als wir das Ende des Flurs erreichen, geht Randall bereits mit federnden Schritten, schüttelt sich den Schlaf aus Armen und Beinen. Daddy hat den Kopf aufs Klo gelegt, das Gesicht zu uns gewandt und die Augen geschlossen. Seine Arme hängen mit den Handgelenken nach unten auf den abgestoßenen Fliesen, sodass sie aussehen wie Kiefernsetzlinge.
    »Mir ist schlecht«, stöhnt Daddy. »Es hört nich auf.«
    »Komm mit, Daddy.«
    »Nein.« Daddy versucht, Randall wegzustoßen, als er sich über ihn beugt und ihm unter die Achseln greift, aber Daddy ist schwach, und seine Hände fallen zurück wie trockene Äste. »Muss beim Klo bleiben.«
    »Ich stell dir ’n Mülleimer nebens Bett.« Randall zieht Daddy hoch, bis seine Brust in der Luft ist, aber Daddys Beine spielen nicht mit, und er hängt so schlaff da wie ein Laken auf der Wäscheleine, bevor man es glatt gezogen und festgeklammert hat. Als unsere Großeltern noch lebten, hat Mama immer die ganze Bettwäsche aus beiden Haushalten auf einmal gewaschen, und das war so viel, dass Daddy zusätzliche Leinen spannen musste. Mama lief daran entlang und hängte die Teile zuerst gebündelt auf, ehe sie sie auseinanderzog. Die Laken waren so dünn, dass man beinahe hindurchsehen konnte. Sie bildeten schattige Räume, in denen wir Verstecken spielten. Im Winter machten sie unsere Gesichter schmerzhaft kalt, aber im Sommer war es so heiß, dass die Laken nicht lange nass blieben. Trotzdem steckten wir unsere Gesichter hinein, um die verborgenen kühlen Stellen zu finden. Einmal hinterließen wir schlammige Spuren darauf, und Mama brüllte uns an, weil wir sie dreckig gemacht hatten; von da an ließen wir unsere Hände über ihnen schweben und schoben nur unsere Nasen hinein, um hindurchzuschauen und vielleicht einen von den anderen zu entdecken, der gerade durch den ausgebeulten Korridor nebenan lief. Jetzt ist das Waschen und Aufhängen der Wäsche meine und Randalls Aufgabe: Ich glaube, Skeetah weiß nicht mal, wie die Waschmaschine funktioniert.
    »Nimm seine Beine«, sagt Randall, also bücke ich mich und hebe sie hoch. Daddy ist schwerer, als er aussieht. Seine Augen sind geschlossen, und er atmet pfeifend in seinen Bizeps hinein; sein Atem gurgelt in der Kehle. »Und los.«
    Ich muss auf dem Flur rückwärts gehen, daher kommen wir nur langsam voran. Nach Mamas Tod hat Daddy mir und Randall beigebracht, wie man die Waschmaschine bedient. Es war unsere Aufgabe, die Bettwäsche zu waschen und aufzuhängen. Zuerst haben wir sie nur gewaschen, wenn Daddy es uns gesagt hat; später haben wir sie gewaschen, wenn sie so schmutzig war,dass wir mehrmals nachts aufwachten und uns am Schienbein oder am Knöchel kratzen mussten, weil es so juckte. Am Anfang, als wir beide noch zu klein waren, um die Laken über die Leine zu legen, haben wir sie so aufgehängt: Wir hielten das nasse Laken zwischen uns, zählten bis drei, warfen den feuchten Baumwollstoff mit Schwung hoch und hofften, er würde auf der Leine hängen bleiben. Daddys Knöchel fühlen sich so glatt wie Orangen an. Ich hätte nicht gedacht, dass sie so weich sind.
    »Eins, zwei, drei«, sagt Randall, und wir hieven Daddy hoch wie früher die Laken und rollen ihn auf das Bett. Einen Augenblick lang ist Randall nur halb so groß, dünn wie ein langgezogener Gürtel, nur Haut und Knochen, mit Knien so groß wie Softbälle, und wir sind wieder Kinder; Mama ist gerade gestorben, und wir hängen ihre Laken auf die Leine. Meine Augen brennen. Daddy hinterlässt auf dem Kopfkissen eine feuchte Spur. Er stöhnt und hält sich die verletzte Hand.
    Es stehen jetzt noch mehr halb leere Bierdosen auf dem Nachttisch. Sie wackeln, als Randall sich neben das Bett kniet, um Daddys Medizin zu suchen, die auf dem Boden steht.
    »Tut deine Hand weh?«, fragt Randall. Daddy rollt sich auf die Seite, dreht das Gesicht zu uns, und ich gehe ins Badezimmer und hole den

Weitere Kostenlose Bücher