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Vor dem Sturm

Vor dem Sturm

Titel: Vor dem Sturm Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Theodor Fontane
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befinden, die während des vorigen Winters in unserem Kreise zuerst gelesen und mit soviel Jubel aufgenommen wurden.«
    Hier unterbrach sich Lewin, um die beiden genannten Bücher kursieren zu lassen. Dann fuhr er fort: »An neuen Beiträgen für die heutige Sitzung sind fünf Arbeiten eingegangen, sehr verschieden an Umfang: lyrische oder lyrisch-epische Dichtungen, ferner Tagebuch- und Erinnerungsblätter aus Spanien und Rußland. Es ist Regel, mit den lyrischen Sachen zu beginnen und alles, was dem Gebiete der Erzählung angehört, folgen zu lassen. Ich ersuche Herrn Kandidaten Himmerlich, uns seine, wenn ich recht gesehen habe, aus dem Englischen übersetzten Strophen vorlesen zu wollen. Sie führen den Titel: ›Der Sabbat‹.«
    Mit diesen Worten überreichte Lewin das Blatt.
    Jürgaß war bei Nennung der Überschrift in ziemlich demonstrativer Weise mit der linken Handfläche über das Kinn gefahren.
    Himmerlich, in unverkennbarer nervöser Unruhe und eifrig bemüht, das mehrmals eingekniffte Blatt wieder glattzustreichen, wiederholte zunächst: »Der Sabbat, Gedicht von William Wilberforce.«
    »Ist das derselbe Wilberforce«, fragte Jürgaß, »der den Sklavenhandel abgeschafft hat?«
    »Nein, im Gegenteil.«
    »Nun, er wird ihn doch nicht wieder eingeführt haben?«
    »Auch das nicht. Der einen so berühmten Namen führende junge Dichter, mit dem ich Sie heute bekannt machen möchte, ist Fabrikarbeiter. Wenn ich sagte ›im Gegenteil‹, so wollte ich damit ausdrücken, daß er selber noch in einer Art von Sklaverei steckt. Ich fühle das Unlogische meiner Wendung und bitte um Entschuldigung.«
    »Gut, gut, Himmerlich. Nicht immer gleich empfindlich.«
    »Jede Art von Empfindlichkeit ist mir durchaus fremd. Ich bitte aber, da ich einmal das Wort habe, einige Bemerkungen vorausschicken zu dürfen. Es ist Ihnen allen bekannt, daß die englische Sprache mit kurzen Wörtern überreich gesegnet ist und daß dieselbe, nicht immer, aber oft, in einer einzigen Silbe das zu sagen versteht, wozu wir deren drei gebrauchen. Weibliche Reime, um auch das noch zu bemerken, haben die Engländer so gut wie gar nicht.«
    »Wie verwerflich!«
    »Aus diesen sprachlichen Unterschieden erwachsen Schwierigkeiten, auf die wenigstens kursorisch einzugehen Sie mir gütigst gestatten wollen.«
    »Nein, lieber Himmerlich, vorbehaltlich präsidieller Entscheidung ›gütigst
nicht
gestatten wollen‹. Ich habe bis hierher geschwiegen, sehr wohl wissend, jedes Huhn kakelt, ehe es sein Ei legt. Aber diesem bis zu einem gewissen Grade nachzugebenden Naturrecht steht, wenn es auszuschreiten droht, das geschriebene Recht der Kastalia gegenüber. Paragraph neun unserer Statuten regelt die Frage der Vorreden ein für allemal und gibt diesen selber ihr zuständiges Maß. Auch von dem Redefeuer gilt des Dichters Wort: ›Wohltätig ist des Feuers Macht, wenn sie der Mensch bezähmt, bewacht.‹ Ich habe den Eindruck, daß das statutenmäßig vorgesehene Maß bereits überschritten wurde, und bitte deshalb unseren Herrn Vorsitzenden, auf Vortrag der Dichtung selbst dringen zu wollen.«
    Lewin nickte zustimmend, und Himmerlich, indem er sich leicht verfärbte, begann mit vibrierender Stimme:
     
    »'s ist Sabbatfrüh, und noch im Sinken spendet
    Ein zaubrisch Licht des Vollmonds Silberpracht.
    Es ist noch früh, die Mitte kaum beendet
    Der stillen, sternenblassen Sommernacht;
    Schon hab ich froh mich auf den Weg gemacht
    Am Rain entlang, entlang an Wald und Auen
    Und harre nun, auf daß der Tag erwacht,
    Um andachtsvoll dem Schauspiel zuzuschauen,
    Vor dessen Majestät die Herzen übertauen.
     
    Die Lerche wacht; mit flatterndem Gefieder
    Erhebt sie sich, verschmähend unsre Welt,
    Und wie sie steigt, so werden ihre Lieder
    Von Lust und Wohlklang mehr und mehr geschwellt.
    Das Wasserhuhn, als würd ihm nachgestellt,
    Entflieht vor mir mit hast'gem Flügelschlagen,
    Sogar das Lamm erschrocken innehält,
    Und statt am Grase ruhig fort zu nagen,
    Reißt es vom Pflock sich los, um übers Moor zu jagen.«
     
    An dieser Stelle erfuhr die Vorlesung durch das Erscheinen der Frau Hulen, die mit dem Teebrett eintrat, eine Unterbrechung. Lewin, immer voll Mitgefühl mit Poeteneitelkeiten, schon weil er sie selber durchgemacht hatte, winkte mehrmals, daß sich die Alte zurückziehen möchte; aber es war schon zu spät, und Himmerlich hatte durch ein minutenlanges Martyrium zu gehen. Er dankte kurz, als das herumgehende Tablett auch an ihn kam, schickte der

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