Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Vor dem Sturm

Vor dem Sturm

Titel: Vor dem Sturm Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Theodor Fontane
Vom Netzwerk:
Freundeskreis umfassende Reunion bei Ladalinskis festgesetzt, zu der selbstverständlich auch Lewin eine Einladung empfangen und angenommen hatte. Er durfte deshalb einigermaßen überrascht sein, am Morgen dieses Tages ein zierliches, in ein Dreieck zusammengefaltetes und mit blauem Lack gesiegeltes Billet nachstehenden Inhalts zu erhalten: »Lieber Lewin! Ich glaubte Dich vorgestern oder gestern, wo Papa und Tubal in Potsdam waren, erwarten zu dürfen; aber Du verwöhnst mich nicht durch Aufmerksamkeiten. Siehst Du Gespenster? Sei nicht töricht, Lewin. Ich schreibe Dir, weil ich den Wunsch habe, Dir einen Morgengruß ins Haus zu schicken, und im übrigen nicht sicher bin, ob Du Deine Zusage für heute abend noch im Gedächtnis hast. Poeten sind vergeßlich; Verse an mich hast Du schon längst vergessen. Kathinka v. L.«
    Lewin las zwei-, dreimal, sich die Worte wiederholend: »Siehst Du Gespenster?« und »Sei nicht töricht, Lewin.« Es war ihm einen Augenblick, als schlösse sich ein tropischer, in berauschendem Dufte schwimmender Garten vor ihm auf und Kathinka, von einem Bosquet her, hinter dem sie sich versteckt gehalten, spränge ihm mit ausgebreiteten Armen entgegen und riefe ihm übermütig zu: »Schlechter Sucher, der du bist! Warum konntest du mich nicht finden?« Aber dann las er wieder: »Poeten sind vergeßlich; Verse an mich hast Du längst vergessen«; und er lachte bitter.
    »Dies ist der echte Ton, weil es der spöttische ist! Was sind ihr Verse? Oh, ich verstehe sie ganz. Ein glücklicher Liebhaber ist ihr nicht des Glückes genug, sie bedarf noch eines unglücklichen, um den Vollgeschmack des Glückes zu haben. Deshalb hält sie mich fest. Das ist die Rolle, die sie mir zudiktiert! Folie für einen glänzenderen Stein.«
    Er wollte das Billet zerknittern und fühlte doch, daß ihm die Hand versagte. Eine weichere Stimmung überkam ihn, und er berührte die Stelle, die auf Augenblicke wenigstens neue Hoffnungen in ihm angefacht hatte, mit seinen Lippen. Dann faltete er das Blatt zusammen und steckte es zu sich.
    Es war ihm klar, daß die nächsten Stunden, wenn er sie an seinem Schreibtische zubrächte, doch für ihn verloren sein würden; so brach er auf, um in der Stadt Zerstreuung zu suchen. Er fand sie rascher, als er erwarten durfte. An der Ecke des Rathauses standen Hunderte von Personen, um einen in französischer und deutscher Sprache abgefaßten, auf große gelbe Zettel gedruckten Straßenanschlag zu studieren. Er trat hinzu und las über die Köpfe der vor ihm Stehenden hinweg: »Seine Exzellenz der Herr Marschall, Commandant en chef des elften Armeecorps, ist benachrichtigt, daß zu Berlin viele Subalternoffiziere, auch Employés der Großen Armee angekommen sind, die ihre Corps, ohne dazu ermächtigt zu sein, verlassen haben. Seine Exzellenz befiehlt allen vorgenannten Personen, die Stadt zu verlassen, widrigenfalls alle diejenigen, die diesem Befehl nicht genügt haben, durch die Gendarmerie verhaftet, ihre Namen aber dem Herrn Kriegsminister notifiziert werden sollen. Alle Gastwirte sind angewiesen, keine der in nachstehender Ordre bezeichneten Offiziers bei sich aufzunehmen, und werden im Betretungsfalle in eine näher zu bestimmende Geldstrafe genommen werden. Gez. Augereau, Herzog von Castiglione.«
    Dieser Straßenanschlag, mehr noch als das neunundzwanzigste Bulletin, das in den Weihnachtstagen erschienen war, enthielt das Zugeständnis einer vollkommenen Auflösung der Großen Armee; die Disziplin war hin und mit ihr das zusammenhaltende Band. Jeder, der die Bekanntmachung las, empfing diesen Eindruck und ließ es nach Berliner Art nicht an spitzen Bemerkungen fehlen. »Employés und Subalternoffiziere! Von den Generälen ist keine Rede«, sagte der eine; »und von den Marschällen erst recht nicht«, fügte ein anderer hinzu. »Gewiß nicht; eine Krähe kratzt der andern die Augen nicht aus.« So ging es hin und her, und dazwischen die mehr als einmal wiederholte Versicherung, daß die Berliner Gastwirte keine französischen Polizeibeamten wären.
    Lewin löste sich bald aus dem Menschenknäuel heraus und traf in der Nähe der Stechbahn ein paar Kommilitonen, die sich leicht bereden ließen, ein Kolleg zu opfern und an einem Spaziergange nach Charlottenburg teilzunehmen. Es war ein Marwitz und ein Löschebrand, Landsleute und alte Bekannte schon von den Schulbänken des Grauen Klosters her. Sie schritten erst die Linden, dann die große Chaussee hinunter auf das »Türkische

Weitere Kostenlose Bücher