Vor dem Sturm
schuld.
Aber eben dieses Abwarten, das uns so vieles versäumen ließ, hat uns vor ebenso vielem bewahrt, und wenn nun schließlich zwischen guten und schlimmen Folgen abgewogen werden soll, so ist es möglich oder – ich zögere nicht, dies Zugeständnis zu machen – selbst sehr wahrscheinlich, daß sich die Waage nach der guten Seite hin neigt. Vor drei Wochen glaubte ich, daß es
ohne
den König geschehen müsse, jetzt weiß ich, und gesegnet sei dieser Wandel der Dinge, daß es
mit
ihm geschehen wird. Wir werden einen Krieg haben nach alten preußischen Traditionen. Ich wäre vor einem Volkskriege nicht erschrocken, denn erst das Land und dann der Thron, aber wie unser märkisches Sprichwort sagt: Besser ist besser.
Ja, Lewin, ein Wandel der Dinge, an den ich nicht mehr zu glauben wagte, er ist da, und die nächsten Tage schon werden ihn der Welt verkünden. Leicht möglich, daß, wenn Du diese Zeilen erhältst, der erste der beabsichtigten Schritte bereits geschehen ist.
Und nun höre. Der Hof verläßt Potsdam und geht nach Breslau. Dieser Schritt ist wichtiger, als Du ermessen kannst. Was ihn veranlaßt hat, darüber gehen nur Gerüchte. Es heißt, daß Napoleon beabsichtigt habe, sich des Königs zu bemächtigen und ihn als Geisel, als Gewähr für die friedliche Haltung des Landes, auf eine französische Festung abführen zu lassen. Ich untersuche nicht, wieviel Wahres oder Falsches an diesem Gerüchte ist, es genügt, daß ihm der König Glauben geschenkt hat. Unmittelbar nach der Konfirmation des Kronprinzen, die heute stattfindet, wird der Aufbruch erfolgen. Es geht in fünf Etappen; das Regiment Garde wird diese Übersiedelung begleiten oder decken. Breslau, Schlesien sind gut gewählt; die Provinz ist die einzige, die keine französische Besatzung hat, und Österreich, auf das wir rechnen, ist nahe.
Und nun höre weiter!
Auf den 26. ist das Eintreffen des Königs in Breslau festgesetzt; eine Woche später wird er sein Volk zu den Waffen rufen. Der Entwurf zu diesem Aufruf ist in meinen Händen gewesen; er spricht die Sprache, die jetzt gesprochen werden muß, und es ist nur eins, was ihm fehlt: der Feind wird nicht genannt. Aber, Gott sei Dank, es bedarf dessen nicht mehr. Yorcks zum Schein verworfene, aber, wie ich jetzt mit Bestimmtheit weiß, in allen Stücken gebilligte Kapitulation, dazu der wahrscheinlich morgen schon stattfindende Aufbruch des Hofes, um sich den Launen eines unberechenbaren Bundesgenossen zu entziehen, alles das läßt keinen Zweifel darüber,
wem
es gilt.
Und in die leere Luft verhallen wird dieser Aufruf nicht. Ich kenne unser Volk. Es ist wert, daß es besteht, und es wird sich für sein Bestehen einsetzen. Das ist alles, was es kann. Keiner hat mehr als sich selbst. Wir haben viele Fehler, aber auch viele Vorzüge; es trifft sich, daß wir den Gegensatz von schwarz und weiß nicht bloß in unseren Farben haben. Der Sinn fürs Ganze ist seit des großen Königs Tagen in uns lebendig geworden, und sehen wir das Ganze hinschwinden, so schwindet uns auch die Lust an der eigenen Existenz. Denk an den alten Major, der am Tage nach Kunersdorf in unserer Hohen-Vietzer Kirche verblutete. Sein Blutfleck erzählt von ihm bis diesen Tag. Er dachte, daß Preußens letzte Stunde gekommen sei; ›ich will sterben, Kinder‹, rief er, als sie ihn niederlegten, und riß sich den Verband von seiner Wunde.
Und solcher leben noch viele bei uns!
Im übrigen, wir werden einen
ordentlichen
Krieg haben, Lewin, und ordentliche Fahnen. Hörst Du: ordentliche, preußische, königliche Fahnen. Du sollst mit mir zufrieden sein. Bin ich doch mehr in Dein Lager übergegangen als Du in das meine. Schreibe bald; noch besser, komm! Alles grüßt: die Schorlemmer, Renate, Marie. Selbst Hektor, der mich groß ansieht und zärtlich winselt, scheint sich melden zu wollen.
Wie immer Dein alter Papa B. v. V.«
Vierzehntes Kapitel
Kleiner Zirkel
Die Einladung zu Ladalinskis hatte auf sechs Uhr gelautet; der alte Geheimrat, wenn er es vermeiden konnte, liebte nicht die späten Zusammenkünfte. So war es denn hohe Zeit für Lewin, sich zu rüsten. Und er tat es; aber nicht in bester Laune. Immer wieder bestürmte ihn die seit Stunden vergebens zurückgedrängte Frage, was Kathinka mit ihrer zweiten, so rätselvoll zugespitzten Einladung eigentlich bezweckt habe, und immer wieder lautete die Antwort: »Kokettes Spiel! Sie bedarf meiner; ich bin ihr wertlos und wertvoll zugleich; sie hält mich wie
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