Vor dem Sturm
noch einen Schottschen. Du kannst mich und Malchen auch nach Hause bringen.«
Es klang mehr schelmisch als zudringlich, und Lewin, der dies fühlte, wandte sich um und ergriff ihre Hand. Das Mädchen aber, das ihn verwechselt haben mochte und jetzt erst in sein verstörtes Gesicht sah, erschrak und lief quer über den Vorgarten in den Saal zurück. Drinnen mußte sie von der Begegnung erzählt haben, denn zwei, drei Köpfe erschienen gleich darauf am Fenster und blickten neugierig nach dem Fremden hinaus.
Freilich nicht auf lange, denn der Schottische begann nun wirklich, und Lewin, während er weiterging, versuchte sich die Takte für seinen Marsch zurechtzulegen. Es gelang auch eine Weile; aber der Tanzrhythmus war doch stärker als alles andere, und aus seinem gezwungenen Marschtempo immer wieder herausfallend, marschierte er in einem wunderlichen Wechsel von Tanz und Schritt die gradlinige Pappelchaussee hinunter. Er kam an der Stelle vorbei, wo ihm an dem Schnatermanntage das Elend des Rückzuges zuerst entgegengetreten war; indessen er gedachte der erschütternden Begegnung nicht mehr und zählte nur noch die Takte der Musik, trotzdem er diese selbst schon längst nicht mehr hörte.
»So hintanzen«, sagte er, »das heißt Leben. Nur nichts schwernehmen. Ich habe das Beste versäumt. Und am Ende auch heute wieder. Sie war hübsch und nicht zimperlich. ›Du kannst mich und Malchen nach Hause bringen... sei nicht töricht, Lewin.‹ Nein, nein, das sagte sie nicht; das war schon früher.«
Er schwieg eine Weile, seine Gedanken im stillen weiterspinnend. »Und mit der Johanna Susemihl, was war es denn am Ende? Und was liegt daran, ob ihr die alte Zunzen das Kleine gegönnt hat oder nicht! Nun sind sie tot, und nur der Maréchal de logis, so denk ich mir, lebt noch. Er hatte Tressen an dem Hut und einen Klunker dran. Und
fremde
Tressen; ja, das macht es; das Neue, das Fremde. Etwas anderes muß es sein. Neugier wie zu Mutter Evas Tagen.«
Er war jetzt über Friedrichsfelde hinaus; nur wenn er sich wandte, sah er noch die Lichter des Dorfes. Am Himmel kein Stern; über die Mondessichel hin zogen die Wolken, immer dichter, immer rascher. Aber rascher noch gingen die Bilder über seine Seele.
»Wie die Hulen sich wundern wird! Ich sehe sie, wie sie mit der kleinen Lampe nach mir sucht, als ob ich ein versteckter Liebhaber wäre. Und der bin ich eigentlich auch; nur zu sehr versteckt; ich werde nie gefunden. Die Hulen wird so verdutzt aussehen wie damals, als ich ihr das französische Kinderlied vorlas. ›Klippklapp‹, sagte sie; es war gar nicht so dumm. Wie ging es doch?
An meiner Enklin Namenstag
Ihr jeder etwas schenken mag:
Der Bäcker schickt ein Zuckerbrot,
Der Schneider einen Mantel rot...
Ja, so ging es. ›Le boulanger fit un gâteau, la couturière un p'tit manteau‹, das schien die leichteste Stelle und war dann hinterher die schwerste. Ich entsinne mich noch... Was es doch für wunderliche Sachen gibt; ein französischer Kinderreim zwischen Friedrichsfelde und Dahlwitz. Aber warum nicht? Es gibt noch viel Wunderlicheres.«
Er passierte jetzt das Dorf, dessen Namen er eben genannt hatte. Der mit alten Rüstern besetzte Fahrweg lag im Dunkeln, und die Fensterläden der meist einzeln stehenden Häuser waren geschlossen; aber aus den herzförmigen Öffnungen fiel ein Lichtschein auf die Straße.
»Brennende Herzen«, sagte er, »morgen früh sind sie wieder an die Wand geklappt und so schwarz wie vorher. Es ist auch lange genug, vier Stunden zu brennen. Hier wohnt der Pastor; der brennt sechs.«
Hundert Schritte hinter dem Pastorhause schloß das Dorf, und Lewin trat ins Freie. Ihn fröstelte. War es die Nachtluft, oder war es das Fieber? Er schlug den Rockkragen in die Höhe und die Mützenklappen nach unten; aber das Frösteln blieb.
»Wohin geh ich nur? Ich weiß es nicht. Oder ob ich umkehre? Nein. Ich kann nicht wieder in die Häusermasse hinein; sie nimmt mir den Atem, sie bringt mich um. Also weiter. Ich werde wohl irgendwo hinkommen.«
So schritt er abermals vorwärts; eine Viertelmeile, eine halbe. Nach rechts hin, an einer Biegung der Chaussee, stand der Schattenriß eines Kirchturms.
»Ich bin müde, und ich glaube fast, ich habe Hunger.«
Er setzte sich auf einen neben der Straße zusammengefahrenen Steinhaufen und sah dem dürren Laube zu, das über den glattgefahrenen Schnee hin an ihm vorübertanzte. Denn der Wind, der seit Stunden schon dichte Wolkenmassen
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