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Vor dem Sturm

Vor dem Sturm

Titel: Vor dem Sturm Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Theodor Fontane
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Grabe.«
    »Und doch war es ein richtiges Gefühl, was ihn zurückhielt«, erwiderte der Geheimrat.
    Renate sah ihn fragend an.
    »Ein richtiges Gefühl«, wiederholte dieser nach einer Pause, »das Gefühl einer Mitschuld. Ach, meine teure Renate, die Schuld, die wir auf uns laden, tragen wir nicht allein. Andere sind gezwungen, sie mitzutragen. Und Tubal empfindet das. Er wollte niemand von euch sehen, nicht Lewin und nicht dich.«
    »Und doch hätt er sich überwinden sollen«, sagte Renate.
    »Und daß er es
nicht
tat, Onkel Ladalinski, das kann ich ihm nicht zum Guten rechnen, wenigstens nicht zum Guten allein. Er gab einem feinen Gefühle nach und mißtraute dem unsrigen. Das war nicht recht, sonst hätt er wissen müssen, daß wir solche Mitschuld nicht gelten lassen und ihr Bekenntnis nicht annehmen würden.«
    Sie schwieg einen Augenblick; dann fragte sie, wie um dem Gespräch eine andere Wendung zu geben: »Weißt du, wie die Tante starb?«
    »Nein, ich hörte nichts. Alles, was ich erfuhr, erfuhr ich aus einer kurzen Anzeige deines Vaters. Ich war erschüttert, denn sie hatte meinem Herzen nahegestanden, und ich mußte mich aufrichten an der Vorstellung dessen, was ihr durch diesen raschen und unerwarteten Tod erspart geblieben ist. Denn sie liebte nicht, ihre Pläne durchkreuzt zu sehen. So durchkreuzt!« Er schwieg eine Weile und setzte dann hinzu: »Und ihre Pläne, Renate, waren meine Wünsche. Alles, was davon noch übrig ist, leg ich in deine Hand.«
    Renate blickte vor sich hin und errötete. Dann aber sagte sie rasch und in beinahe heiterem Tone: »Oheim Ladalinski, laß mich offen sein. Ich darf es. Du pochst nicht an die rechte Tür, und du weißt es auch; was du freundlich in meine Hand legen möchtest, das liegt in einer anderen.«
    »Nein, Renate, es liegt bei dir. Ein Herz zwingt das andere. Und ich weiß...«
    Sie schüttelte den Kopf und wollte antworten; aber beide hörten jetzt draußen ein Kratzen an der Tür, und im nächsten Augenblicke kam das Windspiel den Mittelgang der Kirche herauf, stellte sich, mit unruhiger Kopfbewegung, bellend und klingelnd vor den Geheimrat und lief dann wieder auf den Seiteneingang zurück, immer sich umblickend, ob sein Herr auch folge.
    »Kutscher und Diener werden ungeduldig«, sagte der alte Geheimrat; »wir müssen abbrechen.«
    Damit verließen beide die Kirche und schritten wieder über den Kirchhof auf den Wagen zu, in den das Windspiel eben hineingehoben wurde. Der Geheimrat nahm seinen Platz neben demselben und streichelte es, während er die Rechte Renaten zum Abschied reichte.
    »Ich danke dir für unser Gespräch; behalt es in gutem Gedächtnis. Ich bitte dich darum.«
    Damit trennten sie sich. Renate trat unter den Vorbau des Kruges und sah dem Wagen nach. Ihre Gedanken waren bei Tubal, und sie suchte sich das Bild desselben vorzustellen; aber es waren immer die Züge Kathinkas, die sie sah.
    »Sind sie einander so ähnlich?« fragte sie sich und stieg die Treppe hinauf.
    Eine Stunde später brachte die Krügersfrau das Essen, legte das Tischtuch und entschuldigte sich ein Mal über das andere, daß es so spät geworden sei, aber »der kräpsche Junge« habe nicht schlafen wollen. Sie wisse nicht, von wem er es habe, von seinem Vater sicherlich nicht, denn der schlafe zuviel. Ihre Sprechweise, während sie so plauderte, war über ihren Stand, dabei ziemlich zwanglos, und nur mitunter, wenn sie lebhafter wurde, entschlüpfte ihr ein plattdeutsches Wort.
    Tante Schorlemmer und Renate hatten Platz genommen und rückten einen dritten Stuhl an den Tisch.
    »Sie müssen bleiben«, sagte Renate, »und sehen, wie gut es uns schmeckt. Denn Sie führen eine gute Küche, das hab ich gleich gestern herausgefunden. Der Kleine schläft, da haben Sie Zeit und können uns etwas erzählen. Wir sind nun schon fast zwei Tage hier und haben noch nicht einmal Ihren Namen erfahren.«
    »Ich heiße Kemnitz... das heißt mein Mann.«
    Sie sagte dies in einem Tone, der andeuten sollte, daß ihr väterlicher Name um einen Grad höher gewesen sei.
    Renate verstand es auch so und fuhr deshalb fort: »Sie sind gewiß aus der Stadt? Aus Alt-Landsberg oder Müncheberg?«
    »Nein, das nicht: ich bin von hier. Mein Vater hatte die Schule, und als ich bei Pastor Lämmerhirt eingesegnet war, da kam ich aufs Amt. Denn wir waren drei Mädchen, und ich bin die mittelste; Christiane hatte den Marzahnschen Müller geheiratet, und Mariechen, was unsere Jüngste ist, ist noch zu

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