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Vor dem Sturm

Vor dem Sturm

Titel: Vor dem Sturm Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Theodor Fontane
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sorge, daß er abläuft. Wenn er sich strafft, ziehe die Strickleine hinauf. Dann laß dich hinab. Schlimmsten Falles springe! Unten tiefer Schnee – und wir.«
    Lewin verbarg das Zettelchen; es zerreißen, das konnte er nicht, denn er fühlte, daß er es wieder und immer wieder lesen werde. Dann aber sank er, wo er stand, in die Knie und dankte Gott für die Rettung seines Lebens. Denn er zweifelte nicht mehr, daß er gerettet werden würde, und war fest entschlossen, wenn alles andere scheiterte, den Sprung von dem Bastion aus zu wagen. Sprang er fehl, so starb er wenigstens in den Händen der Seinen, und der Armesündergang, samt dem Trommelwirbel und den verbundenen Augen, blieb ihm erspart. Und vor diesem Apparat erschrak er am meisten. »Der Tod ist erträglich, aber die Exekution ist unerträglich.« Das bloße Wort widerte ihn an, und alles, was roh und häßlich ist, stieg bei dem bloßen Klange desselben in einer Reihe fratzenhafter Jahrmarktsbilder vor ihm auf.
    Und diesem Widerwärtigen, was auch kommen mochte, war er nun entronnen. Aber freilich, als der erste Jubel seines Herzens vorüber war, fühlte er bald, daß er nur die Tyrannen gewechselt habe und daß das Horchen auf die Rettungsstunde fast so qualvoll sei wie das Horchen auf den Tod. Er durchmaß den engen Raum immer wieder, öffnete und schloß das Fenster und überflog den Zettel, dessen Inhalt er längst auswendig wußte, zum zehnten und dann zum hundertsten Mal. Der Chasseur brachte das Mittagessen; aber er bat ihn, alles wieder mit fortzunehmen; ihn verlangte nur nach Luft und Frische, und wahrnehmend, daß vom Dache her lange Eiszapfen bis dicht an sein Fenster niederhingen, brach er ein paar davon ab und labte sich an ihrer Kühle. Dann las er wieder und prüfte das Knäuel und berechnete die Höhe des Bastions. Und das letzte war immer, daß es nichts sei und daß jeder Sprung aus einer zweiten Etage viel, viel mehr bedeute. Und unten zehn Fuß Schnee! Es mußte glücken, und er vergaß unter diesen Vorstellungen fast, daß ihm der Sprung überhaupt nur als Notbehelf und letztes Mittel dienen sollte.
    Und nun war Mittag vorüber und endlich auch der Nachmittag. Die Sonne ging unter, das Abendrot erblaßte, und der Tag schwand hin. Nur noch sechs Stunden, bald nur noch fünf. Er zählte die Minuten.
    Um sieben Uhr kam der alte Kastellan. »Junkerchen, sie sitzen jetzt am grünen Tisch; der alte General ist auch da, ein ›bon garçon‹, wie der Tagedieb sagt, den sie mir als Kalfakter zugelegt haben.«
    »Also Kriegsgericht über mich?«
    »Ja, Junkerchen. Ich habe den großen Saal heizen müssen. Das ist der mit dem Balkon, wo Markgraf Hans über dem Kamin hängt, lebensgroß mit gelbledernen Stiefeln, und Sporen so lang wie meine Hand. Der wird sich wundern.«
    »Ich glaub's.«
    »Und wenn der junge Herr noch einen Brief schreiben wollen oder eine Bestellung an den Papa...«
    »Steht es so, Kastellan?«
    »Ich sage nicht, daß es so steht; aber es kann so stehen. Ein Kriegsgericht ist ein Kriegsgericht, und es hängt allewege an einem seidenen Faden. Ach, Junkerchen, unser Bestes ist schon immer: gesattelt sein.«
    »Das ist es«, sagte Lewin mechanisch, während sich seine Seele, der ihre Furcht noch einmal wiederkehrte, mit doppelter Gewalt an das Leben klammerte. Aber der Alte sah es nicht; er nahm den Deckelkorb, den der Chasseur zurückgelassen hatte, bot eine »Gute Nacht!« und ließ seinen Gefangenen allein.
    »Sie sitzen also jetzt oben«, sagte dieser, »und Markgraf Hans mag dreinschauen, wie er will, er wird mich vor ihrem Todeswort nicht retten. Es ist mir, als sprächen sie es jetzt. Und ich fühle den Stich hier im Herzen. Aber ich will leben; Gott, erbarme dich meiner und sei mit deiner Gnade über mir. Laß ihr Wort zuschanden werden.« Und er faltete die Hände wieder und preßte seine heiße Stirn an die Scheiben.
    Die Sterne zogen herauf, und er suchte die Bilder zusammen, soviel er deren kannte. Aber im Gewölk verschwanden sie wieder. »Die Stunde rinnt auch durch den längsten Tag.« Und nun endlich schlug es elf.
    »Noch eine Stunde«, murmelte er vor sich hin, »und diese Qual hat ein Ende! So oder so.«
     
Dreiundzwanzigstes Kapitel
     
Die Befreiung
    Um dieselbe Zeit, wo Lewin diese Worte sprach, hielten zwei Schlitten vor dem Hohen-Vietzer Herrenhause. Der vorderste war eine bloße Schleife und sah dem Planschlitten ähnlich, in dem Lewin am Weihnachtsheiligabend seine Fahrt von Berlin nach Hohen-Vietz

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