Vor dem Sturm
das ihm vor allem teuer war, und er winkte und grüßte mit der Hand. »Lebt wohl, all ihr Geliebten.«
In diesem Augenblicke schoß ein Lichtstrahl am östlichen Himmel auf und verschwand wieder. Es war der erste Bote, den der Tag sendet, lange bevor er selber mit seinem goldnen Wagen heraufzieht. »Soll es mir ein Zeichen sein?«
Und er wurde ruhiger.
Sechs Uhr. Der Tritt keines Wachkommandos wurde draußen hörbar, und so festigte sich in ihm die Überzeugung, daß er wenigstens diesen Tag noch zu leben haben werde. Und ein Tag war viel; was konnte dieser eine Tag nicht alles bringen? Und er sprach wieder die Strophe vor sich hin, die schon einmal in allertrübster Stimmung ihn aufgerichtet hatte:
»Hoffe, harre; nicht vergebens
Zählest du der Stunden Schlag,
Wechsel ist das Los des Lebens,
Und es kommt ein andrer Tag.«
Ja, ja, hoffe, harre. Ein Tag noch, ein ganzer Tag noch! Und dieser Tag lag jetzt vor ihm wie das Leben selbst, und er sah ihm entgegen, als ob er ihm eine Welt von Ereignissen bringen müsse.
Was er ihm aber zunächst brachte, war nur wieder der Chasseur, dessen ohnehin unsoldatischer Aufzug durch einen an seinem linken Arm hängenden Deckelkorb noch gesteigert wurde. »Bon jour, monsieur de Vietzewitz. Pardon, si ce n'est pas tout-à-fait correct. Mais votre nom, c'est un nom difficile.«
Lewin bestätigte.
»Voici votre café. Un bon café, sans doute. Cela veut dire: de la chicorée. Mais qu'importe! c'est un café allemand.«
Unter diesen und anderen Worten (denn er zählte zu den Schwatzhaften) hatte der Chasseur den Deckelkorb geöffnet und den braunen Bunzlauer Topf auf das Fensterbrett gesetzt, unterließ auch nicht, Schwarzbrot und ein paar frischgebackene Semmeln hinzuzulegen. Dann hing er statt des Korbes die große Laterne, die vom Abend vorher noch da war, an seinen Arm und empfahl sich mit einem halb spöttischen: »Votre serviteur.«
Lewin war froh, wieder allein zu sein, rückte den Stuhl an das Fenster und nahm sein Frühstück. Es schmeckte leidlich, und als er damit geendigt, lehnte er sich zurück und sah, aufatmend und neu belebt, in den glühenden Sonnenball, der eben die vor ihm liegende Göritzer Kirchturmspitze vergoldete.
»Nun will ich lesen.« Und damit nahm er die Bibel und schlug auf:
»Prophet Daniel!« Ein Lächeln überflog seine Züge, und er sagte vor sich hin: »Nein, nicht Daniel. Jeder in meiner Lage bildet sich ein, in der Löwengrube zu sein.« Und er blätterte weiter, bis er an die Makkabäer, und dann wieder zurück, bis er an das Buch der Richter kam. »Ja, das ist ein hübsches Buch; frisch, mutig, das soll mich aufrichten!«
Und er begann zu lesen.
Aber seine Lektüre war noch nicht weit gediehen, als er ein Stapfen und Räuspern hörte und, sich aufrichtend, Hoppenmarieken erkannte, die hart am Rande von Bastion Brandenburg entlangkam. Keine zwölf Schritt von ihm entfernt. Sie sah jetzt hinauf, hob den Stock mit ihrer Linken und warf im selben Augenblick ein Knäuel, das sie rasch aus dem Brusttuch hervorgeholt hatte, in sein Fenster hinein. Zugleich mit dem Knäuel fielen ein paar Scheibensplitter vor ihm nieder, und ehe er noch Zeit hatte, sich von seiner Überraschung zu erholen, war die Alte schon wieder fort. Er sah ihr nach und bemerkte jetzt, daß sie mit einem weiter abwärts stehenden Wachtposten ein Gespräch begonnen hatte, natürlich in Zeichensprache. Sie bot ihm aus ihrer Flasche an, und als andere, von den nächsten Schilderhäusern her, herzukamen, gab es Kapriolen und schallendes Gelächter, bis sie schließlich mit ihrem Stock salutierte und um den Schloßhügel herum wieder auf die Stadt zuschritt.
Jetzt erst nahm Lewin das Knäuel auf. Es war nicht groß, wog aber schwer und mußte mithin noch einen Inhalt haben. Er spaltete zunächst von einem der in der Bettlade liegenden Bretter einen Span ab und begann nun die nur stricknadeldicke, aber sehr feste Hanfleine vorsichtig abzuwickeln, ersichtlich zu dem Zweck, daß er, wenn er überrascht würde, beide Knäuel, das alte und das neue, mit Leichtigkeit verbergen könne. Und jetzt war er fertig und hielt sorglich einen umnähten flachen Stein in Händen, an dessen fester Lederöse das eine Hanfleinenende befestigt war. In derselben Lederöse steckte aber auch ein zusammengerollter Papierstreifen. Diesen rollte er jetzt auseinander und las: »Wirf Schlag zwölf (Ablösung ist erst um eins) dieses Knäuel über das Bastion; halte den Faden fest und
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