Vor dem Sturm
zweifle, daß er überhaupt überschätzt werden kann. Die ganze Schule vereinigt sich in dieser Anschauung.«
»Auch Tieck? Empfindet er nicht solche Neudekretierung als eine Thronentsetzung?«
»Keineswegs, denn diese Neudekretierung geht von ihm selber aus. Er ist Kritiker genug, um in Novalis die Spitze, die Vollendung der Schule zu erkennen, und er ist ehrlich genug, das, was er erkannt hat, auch auszusprechen. Selbst auf die Gefahr hin einer Einbüße eigenen Ruhms.«
»Es überrascht mich doch, einer so besonderen Wertschätzung des zu früh Verstorbenen zu begegnen.«
»Es bedarf einer besonderen Organisation und kaum minder einer allereingehendsten Beschäftigung mit ihm, um diesem Lieblinge der Schule, wie ich ihn nennen darf, folgen zu können. Es gilt dies gleichmäßig von seiner Prosa wie von seinen Versen. Aus dem Eindruck, den ich von Ihnen gewonnen habe, möchte ich schließen, daß Sie von Natur darauf angelegt sind, in die kleine Novalisgemeinde einzutreten. Und das ist die Hauptsache. Ob andererseits Ihre Beschäftigung mit dem Dichter Ihrer natürlichen Beanlagung für ihn entspricht, ist mir nach mehr als einmal gemachter Erfahrung zweifelhaft. Ich weiß, wie selbst die zurückschrecken, die sich zu ihm bekennen.«
»Ich kann keinen Grund haben«, erwiderte Tubal in guter Laune, »mit dem Bekenntnis einer Oberflächlichkeit zurückzuhalten, die hier wie überall eine meiner Tugenden ist. Ich kenne seinen Roman und zwei, drei Lieder: ›Kreuzgesang‹, ›Bergmannslied‹ und ähnliches.«
»Das alles zählt zu seinen besten Sachen, aber das Beste ist nicht immer das Eigentlichste. Als ich Sie die Straße heraufkommen sah, las ich eben in seinen ›Hymnen der Nacht‹. In diesen Hymnen haben Sie den eigentlichen Novalis.«
Bei diesen Worten nahm der Doktor das elegant gebundene Buch, legte das sonderbare Lesezeichen ohne jeglichen Anflug von Verlegenheit beiseite und sagte dann, in dem Buche blätternd: »Ich widerstehe nicht der Versuchung, Sie mit einigem, was ich eben las, bekannt zu machen.«
Die beiden Freunde stimmten zu.
»Wir gelten ohnehin als Fanatiker«, fuhr Doktor Faulstich fort, »und wo Fanatismus ist, da ist auch Proselytenmacherei. Übrigens werde ich Ihre Geduld nicht ungebührlich in Anspruch nehmen. Es sind nur wenige Zeilen, eine Verherrlichung des Griechentums.« Faulstich las nun die betreffende Stelle und sagte dann, als er das Buch wieder aus der Hand legte: »Ist die griechische Welt je tiefer und treffender geschildert worden? Und doch ist diese Schilderung nur der Übergang zu der des Christentums. Hören Sie selbst. Jede Zeile berührt mich wie Musik.«
Und er las weiter: »Im Volke, das vor allem verachtet und der seligen Unschuld der Jugend trotzig fremd geworden war, erschien mit nie gesehenem Angesicht die neue Welt: in der Armut dichterischer Hütte der Sohn der Ersten Jungfrau und Mutter. Einsam entfaltete sich das himmlische Herz zu einem Blütenkelch allmächtiger Liebe, und mit vergötternder Inbrunst schaute das weissagende Auge des blühenden Kindes auf die Tage der Zukunft, unbekümmert über seiner Tage irdisches Schicksal.«
Der Doktor schwieg. Die beiden Freunde waren aufmerksam gefolgt. »Sonderbar«, bemerkte Lewin, »es berührt mich fast, als ob diese Schilderung, innig, wie sie ist, hinter der Verherrlichung des Griechentums zurückbliebe. Sollte die Sehnsucht nach der Schönheit doch mächtiger in ihm gewesen sein als die christliche Legende samt dem Glauben an sie?«
Tubal schüttelte den Kopf. »Ich empfand Ähnliches wie du, ohne dieselben Schlüsse daraus zu ziehen. Die Kraft des poetischen Ausdrucks ist kein Gradmesser für unsere Überzeugungen, kaum für unsere Neigungen. Ich liebe den Frieden de tout mon coeur, aber ich würde den Krieg um vieles leichter und besser verherrlichen können. Alles Farbige hat den Vorzug, und selbst schwarz ist besser als weiß. Nimm unsere frömmsten Dichter; wo Gott und der Teufel geschildert werden, kommt jener zu kurz.«
Doktor Faulstich, der, während Tubal sprach, in dem Novalisbande, als ob er eine bestimmte Stelle suche, weitergeblättert hatte, nickte zustimmend und bemerkte dann zu Lewin: »An einer allerintimsten Stellung unseres Dichters zum Christentum ist gar nicht zu zweifeln; käme dieser Zweifel aber auf, so wär es mit seiner Suprematie vorbei. Denn es ist nicht das Maß seines Talents, sondern das Maß seines Glaubens, was ihn über die Mitstrebenden erhebt. Es gibt auch eine
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