Vor dem Sturm
auf dem Rücken des Hügels, den Fluß zu Füßen, jenseits desselben das neumärkische Flachland. Alles in Schnee begraben, die vereinzelten Terrainwellen in der weißen Fläche verschwindend. Auch das Oderbett hätte sich kaum erkennen lassen, wenn nicht inmitten desselben eine durch den Schnee hin abgesteckte Kiefernallee die Fahrstraße von Frankfurt bis Küstrin und dadurch zugleich den Lauf des Flusses bezeichnet hätte. Rechtwinklig auf diese Fahrstraße stießen Queralleen, welche die Kommunikation zwischen den Ufern unterhielten und in ihrer Verlängerung, hüben wie drüben, auf spärlich verstreute Ortschaften zuführten.
Die Freunde freuten sich des Bildes, das, trotz seiner Monotonie, nicht ohne Reiz und einen gewissen Anflug von Feierlichem war.
»Wozu gehört der Kirchturm dort drüben, mit den großen Schallöchern und der goldenen Kugel?« fragte Tubal.
»Zu Dorf Ötscher.«
»Ötscher! Ich habe nie den Namen gehört.«
»Und doch spielt er in unserer Geschichte mit. Zwei Meilen weiter südlich liegt Kunersdorf, wo Kleist fiel und der König in die historischen, besser als alles andere den Moment schildernden Worte ausbrach: ›Will denn keine verdammte Kugel mich treffen?‹ Hierher, auf Ötscher zu, zogen sich an jenem furchtbaren Augusttage die zu Compagnien zusammengeschmolzenen Regimenter, Schiffbrücken wurden geschlagen, und angesichts der Stelle, wo wir jetzt stehen, gingen die Trümmer über den Strom. Das hier zur Rechten ist Reitwein. Ein Finkensteinsches Gut. Dort übernachtete der König.«
»Es ist ein Glück, dich hier als Führer zu haben. Ich hätte dieser Öde jeden historischen Moment abgesprochen.«
»Sehr mit Unrecht. Es liegen hier Schätze auf Schritt und Tritt. Da ist Kriegsrat Wohlbrück drüben in Frankfurt, der seit Jahren die Materialien zu einer Historie des Landes Lebus sammelt und auch in Hohen-Vietz war, um unser Gutsarchiv zu durchforschen. Den hab ich mehr als einmal sagen hören: ›Es fehlt uns nicht an Geschehenem, kaum an Geschichte, aber es fehlt uns der Sinn für beides.‹ Sieh hier drüben den verschneiten Häuserkomplex hinter den zwei schiefstehenden Weiden, das ist unser Ziel: Kirch-Göritz dans toute sa gloire. Es wirkt in diesem Augenblick wie eine Biberkolonie, und doch war es ein Bischofssommersitz, der im 14. Jahrhundert eine berühmte Wallfahrtskirche und im 16. Jahrhundert ein noch berühmteres Marienbild hatte. Aber laß uns jetzt hinabsteigen; der Habicht, der dort fliegt, ist außer unserm Bereich. Ich erzähle dir, so du noch hören willst, von dem Neste vor uns. Ohnehin spielen deine Landsleute vom Bug und der Weichsel her eine Rolle in der Geschichte der Stadt.«
»Da bin ich neugierig«, erwiderte Tubal, »obschon ich fürchten muß, wenig Schmeichelhaftes zu hören.«
»Die Geschichte schmeichelt selten«, fuhr Lewin fort, während sie den Weitermarsch antraten.
»Eines Tages, ich gehe gleich in medias res, waren also die Polen im Lande, sengten, plünderten, mordeten und brachen auch in ein Frauenkloster ein, das hierherum in unmittelbarer Nähe von Kirch-Göritz stand. Eine der Nonnen, hart bedrängt, suchte sich des Anführers zu erwehren und beschwor ihn, von ihr abzulassen; sie wollte ihn zum Dank dafür einen festmachenden Spruch lehren, dessen Kraft er gleich an ihr selbst erproben möge. Dabei kniete sie nieder. Er war auch bereit und hieb zu, während sie die Worte sprach: ›In manus tuas, Domine, commendo spiritum meum.‹ Er aber entsetzte sich, als der Kopf vom Rumpfe flog.«
Eine kurze Pause folgte; dann sagte Tubal: »Aber du sprachst von noch anderen Vorkommnissen; laß mich hoffen, daß sie polnischer Zutat entbehren.«
»Es ist so. Was noch übrigbleibt, mag als ein neumärkisches Lokalereignis gelten; doch eben deshalb ist es um so niederdrückender. Die Kirch-Göritzer hatten ein wundertätiges Marienbild, und dieses Bild schien allen Wechsel der Zeiten überdauern zu sollen. Auf allen Nachbarkanzeln wurde bereits die neue Lehre gepredigt, aber die Pilgerfahrten zur Heiligen Jungfrau, deren Mirakel in der eigenen Bedrängnis mit jedem Tage stiegen, hatten ihren Fortgang. Das reizte den Küstriner Markgrafen, einen scharfen Protestanten, und er gab dem Landeshauptmann im Lande Sternberg, Hansen von Minkwitz, Befehl, dem Unfug ein Ende zu machen. Minkwitz nahm zehn oder zwölf bewaffnete Bürger aus der Stadt Drossen, die zu seinem Amtsbezirke gehörte, und rückte mit ihnen auf Kirch-Göritz zu. Er gedachte das
Weitere Kostenlose Bücher