Vor Jahr und Tag
Vaters, die ungewöhnlich klar und ordentlich für einen Mann war. Er schrieb in kleinen, eckigen Buchstaben, fast wie gedruckt und sehr leserlich.
»3. Januar 1968«, stand auf der ersten Seite. Verwirrt las sie eine Beschreibung des Terrains, des Wetters, einschließlich Windgeschwindigkeit und Windrichtung, Entfernung vom Ziel, Name des Spähers - Rodney Grotting - und andere Angaben, wie die Marke des Gewehrs, das er benutzt hatte, technische Details über die Munition, und schließlich hieß es da: »Kopfschuß. Abschuß erfolgte um 6:43, Vietkong Colonel.« Darunter stand eine kurze schriftliche Bestätigung von Rodney Grotting, mit seiner Unterschrift.
Karen blinzelte fassungslos mit den Augen und blätterte eine Seite weiter. Noch ein Datum, die Schilderung der herrschenden Bedingungen und am Ende das erschreckende Resultat.
Seiten über Seiten dasselbe. Meistens war es ein Herzschuß, manchmal auch ein Kopfschuß. Einmal in den Hals. So eine Schußwunde hatte sie einmal gesehen: Die hochkalibrige Kugel hatte den halben Hals weggerissen, und das
Opfer war verblutet. Bei so einer Wunde, wenn die Halsschlagader zerstört war, gab es nichts mehr, das man tun konnte, selbst wenn ein Ärzteteam danebenstand.
Sie konnte nicht mehr weiterlesen. Mit kreidebleichem Gesicht reichte sie Marc das Büchlein. »Sieh dir das mal an.«
Er nahm sie scharf und besorgt ins Auge, wandte dann jedoch seine Aufmerksamkeit dem Buch zu. Karen, die sein Gesicht nicht aus den Augen ließ, sah keine Spur von Schock oder Abscheu über eine derartige Auflistung.
»Das ist sein Abschußbuch«, sagte er.
»Lieber Gott, meinst du , jeder hatte so was?«
»Die Scharfschützen schon. Ich war bei den Marines, weißt du. Die Scharfschützen in Vietnam waren legendär. Die Besten trafen ihr Ziel sogar über tausend Meter. Die Tötungen mußten nachgewiesen werden, deshalb führten sie Buch darüber.«
Bei dem Gedanken wurde ihr ganz übel. »Aber hätte das Marine Corps die Bücher nicht behalten müssen?«
»Ich weiß nicht. Ich war kein Scharfschütze, also hab ich nie gefragt. Vielleicht schon. Vielleicht führte er ja zwei Bücher, eins für sich selber. Es war ein schlimmer Krieg, Schätzchen. Hat ’ne Menge guter Männer kaputtgemacht.«
Er blätterte das Buch durch, wobei er jede Seite rasch überflog. Als er die letzte erreichte, sagte er: »Einundsechzig Abschüsse. Er war gut.« Er wollte das Buch gerade zumachen, da flatterten ein paar Blätter. Er sah, daß etwas auf der letzten Seite stand, dazwischen etwa vierzig leere, übersprungene Seiten. Stirnrunzelnd schlug Marc die letzte Seite auf.
»Du meine Güte«, stieß er langsam hervor.
Karen, die ihn nicht aus den Augen ließ, sah, wie seine Pupillen sich plötzlich weiteten, wie er rasch die Lippen zusammenpreßte. »Was ist?«
»Noch ein Abschuß«, erwiderte er und hob dann den Blick, um sie anzusehen. »Ein amerikanischer Soldat. Er bekam zwanzigtausend Dollar dafür.«
Karens Magen krampfte sich zusammen. Lieber Gott. Ihr Vater war ein Mörder, ein bezahlter Killer. Den Feind zu töten, war eine Sache, aber einen Kameraden eine ganz andere.
»Danke, ich nehme das«, sagte eine fremde Stimme, und ein Mann tauchte im Eingang des Lagerabteils auf. Er war beleibt, etwa fünfzig Jahre alt, mit einem harten Gesicht; die Pistole in seiner Hand war direkt auf Marcs Kopf gerichtet. Er stand in Socken vor ihnen, was erklärte, warum sie ihn nicht kommen gehört hatten. »Ich hab mich schon gefragt, was wohl in dem Buch stehen könnte, das so interessant ist. Ich nehme an, ich sollte Ihnen dankbar sein, daß Sie mir die Suche erspart haben. Legen Sie es einfach auf die Schachtel da. Ja genau.« Er sprach in einem leichten, beiläufigen Ton, doch die Art, wie er vor ihnen stand, besagte das genaue Gegenteil. »Du, Cowboy, raus mit der Pistole. Wirf sie auf den Boden. Immer langsam. Mit zwei Fingern.«
Karen war wie erstarrt. Marcs Miene war ausdruckslos, aber ein leichtes Kopfschütteln verriet ihr, daß er nicht wollte, daß sie auch nur ein Glied rührte. Langsam tat er, was ihm der beleibte Mann befohlen hatte, zog die Pistole mit Daumen und Zeigefinger aus dem Holster und warf sie ihm vor die Füße.
»Guter Junge.« Der Mann warf nicht einmal einen Blick auf die Pistole, sondern behielt unverwandt Marc im Auge. »Wer zum Teufel bist du? Ihr Freund? Oder ein Cop?«
»Ein Cop«, erwiderte Marc und beließ es dabei. Wenn er zugab, eine persönliche Beziehung zu Karen
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