Vor Jahr und Tag
Arbeiterklasse.« Marc fügte nicht hinzu, daß er in dem Haus in der St. Louis Street aufgewachsen war; er prahlte nicht mit seiner Abstammung. Einen Riesenwirbel um sein Erbe zu machen wäre schlichtweg dumm gewesen. Im übrigen gab’s nichts, mit dem es sich prahlen ließe. Sein Vater hatte nie lange einen Job behalten, also waren sie von seiner Großmutter aufgenommen worden, die nicht mit ansehen wollte, wie sie in immer ärmere Verhältnisse abrutschten und schließlich auf der Straße landeten. Und als Preis für ihren Seelenfrieden hatte sie die Anwesenheit des ungeliebten Schwiegersohns geduldet. Seine Großmutter hatte immer das Gehabe einer entthronten Königin gehabt, doch das Vermögen der Familie war längst dahingeschmolzen, und alles, was sie noch besaßen, war das große Haus in French Quarter.
Marc hielt sich selbst nicht für kreolisch; er war einfach ein Amerikaner. Mehr als das, er war ein verdammt guter Cop und abgebrüht genug, um zu wissen, daß es Fälle gab, in denen er etwas ausrichten konnte, und wieder andere, bei denen das nicht möglich war. Dieser hier gehörte zu den letzteren, und er würde sich deswegen keine schlaflosen Nächte machen.
Und dennoch, wenn er sich den Toten so ansah, konnte er nicht umhin, sich zu fragen, ob der Mann wohl Familie gehabt hatte, wo sie sein mochte, ob es ihnen etwas ausmachte, daß er tot war. Die meisten Penner waren Versager, zu faul zum Arbeiten, hingen herum, nahmen Drogen und waren in Kleinkriminalität verwickelt. Aber einige von ihnen waren Psychatriefälle und konnten nicht für sich selbst sorgen. Marc hatte keinerlei Verständnis für Familien, die diese Leute einfach auf die Straße warfen und sich selbst überließen. Natürlich war es nicht einfach mit sol-chen Leuten, aber sie konnten ja nichts dafür, und eine Familie hatte nun mal die Pflicht, sich um ihre Mitglieder zu kümmern. Vielleicht war er ja altmodisch, aber für seine Großmutter war die Familie das Allerwichtigste gewesen, und das mußte wohl auf ihn abgefärbt haben.
Wieder ging Marc bei der Leiche in die Hocke, studierte die toten Augen und überlegte, was sich hier wohl abgespielt haben mochte, mitten im belebten Viertel, ohne daß jemand etwas Verdächtiges gehört oder gesehen hatte. Niemand hatte Schüsse gehört, obwohl mindestens vier abgefeuert worden sein mußten. Ein Schalldämpfer? Bei Schalldämpfern dachte er an Profis und bei Profis an organisiertes Verbrechen, nicht einfache Drogendealer von der Straße. Der Typ hier sah ohnehin nicht aus wie ein User; unter all dem Schmutz wirkte er eher muskulös und gutgenährt. Obdachlose konnten bei all den Suppenküchen und Unterkünften heutzutage ebensogut essen wie jeder normale Mensch, aber Drogensüchtige waren am Essen nicht besonders interessiert. Und Dealer waren gewöhnlich keine Obdachlosen; sie brauchten einen festen Standort, von dem aus sie operieren konnten.
Er rieb sich die Nase. Nein, um eine Drogensache handelte es sich hier wohl nicht. Vielleicht hatte der Typ einfach die falschen Leute verärgert; oder er war zur falschen Zeit am falschen Ort gewesen, und irgendein Klugscheißer hatte ihn einfach umgenietet. Wahrscheinlich würde er das nie erfahren, aber verdammt noch mal, er haßte ungelöste Fälle.
Die Fleischwagenkolonne kam anmarschiert. »Sind Sie fertig, Detective?«
Marc erhob sich. »Yep.« Es gab nichts mehr zu tun, nichts mehr zu erfahren. Vielleicht fanden die Typen von der Gerichtsmedizin ja noch was raus, ansonsten würde er nicht mehr erfahren als das, was er bis jetzt ausgeklügelt hatte.
Inzwischen galt es, vier junge Damen zu befragen. Nachdem er zugesehen hatte, wie die Leiche aufgeladen und abtransportiert worden war, warf er einen Blick auf Shannon. »Hast du Lust auf ein wenig Befragung?«
Der junge Detective beäugte die abseits stehenden Frauen. »Solang’s nicht die ist, die dauernd heult, ist’s mir recht. Mann, die greint schon, seit ich hier bin.«
»Nimm bloß das Wichtigste auf. Ich werd mich morgen mit den vieren in Verbindung setzen.« Er konnte natürlich verlangen, daß sie zu ihm aufs Revier im achten Distrikt kamen, aber er wollte es ihnen nicht schwerer machen, als er mußte. Die jungen Damen, die alle Anfang Zwanzig zu sein schienen, waren ins Viertel gekommen, um sich einen schönen Abend zu machen. Mit der Brutalität eines Mordes waren sie nie zuvor in Berührung gekommen; da waren ihnen ein paar Tränen nicht zu verargen.
»Mach’s ihnen nicht zu
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