Vor Jahr und Tag
immer für Übertreiber gehalten, um ihre eigene Dummheit und Unvorsichtigkeit zu kaschieren. Tja, nun war sie selbst das neueste Mitglied im Club der Dummen und Unvorsichtigen.
Soviel zu ihrer vielgelobten Vorsicht und Selbstbeherrschung; sie war eben bisher noch nicht in Marc Chastains Fänge geraten. Was hiermit geschehen wäre. Und nun wußte sie, daß sie, wenn es um ihn ging, weder Vorsicht noch Selbstbeherrschung kannte.
Ihr Verhalten war so dumm, so töricht, daß sie es kaum glauben konnte. Vom Grab ihres Vaters ins Bett eines Fremden. Sie glaubte nicht, daß sie die schlimmen letzten Tage ohne Marcs Unterstützung überstanden hätte, aber ein Fremder war er trotzdem. Sie wußte nichts über ihn, außer daß er ein Cop war, eine Salzsäule verführen konnte und sie in Grund und Boden gevögelt hatte.
Die bewußt grobe Formulierung ihrer Gedanken machte die Dinge jedoch auch nicht besser, ganz im Gegenteil: Ihr war zum Heulen zumute.
Selbst wenn sie der Ansicht gewesen wäre, daß er sich von Anfang an heftig zu ihr hingezogen gefühlt hätte, hätte das an ihrem tiefen Schamgefühl darüber, sich so einfach mit ihm eingelassen zu haben, so kriminell unvorsichtig gewesen zu sein, nichts geändert, doch sie wäre zumindest nicht davongelaufen wie ein aufgeschrecktes Kaninchen. Aber er hatte sich nicht zu ihr hingezogen gefühlt, sondern sie auf Anhieb abgelehnt. Als sie dann frühmorgens neben ihm aufgewacht war, vom Gewicht seines muskulösen Arms in die Matratze gedrückt, hatte sie nur noch an ihre erste Begegnung denken können und gewußt, daß sie sich nicht geirrt hatte. Wenn er sie also so wenig mochte, warum hatte er sich dann sofort daran gemacht, sie rumzukriegen? Die mögliche Antwort auf diese Frage war es, die sie zur panischen Flucht getrieben hatte.
Vielleicht war ihm ja nicht mehr vorzuwerfen als Geilheit. Vielleicht hatte er ja nur mit ihr geschlafen, weil sie verfügbar war und er die Gelegenheit nutzen wollte und nicht wirklich mit böser Absicht. Vielleicht. Aber sie glaubte es nicht. Zum einen hatte er nichts dem Zufall überlassen, nicht einmal die Sache mit dem Kondom. Er hatte sich vorgenommen, sie herumzukriegen, und sein Ziel mit beschämender Leichtigkeit erreicht. Alles, jede Handlung, schien bewußt geplant gewesen zu sein, und das machte ihr angst. Nicht nur das: Es verletzte sie zutiefst.
Angesichts seiner spontanen Abneigung ihr gegenüber konnte sie nur den Schluß ziehen, daß er das Ganze geplant hatte, um sie ein wenig zurechtzustutzen, sozusagen. Sie ordentlich bumsen, und wenn er sie benutzt hatte, mit einem Fußtritt hinausbefördern.
Ein Patient im Krankenhaus hatte ihr sogar einmal etwas Derartiges vorausgesagt, als sie ihn zum dritten Mal abwies. »Wart’s ab, eines Tages taucht irgend so ein aalglatter Typ auf und legt dich flach«, hatte er verächtlich gesagt, »und wenn er mit dir fertig ist und sich aus dem Staub macht, dann wirst du sehen, daß du keinen Deut besser bist als der Rest von uns.«
Nun, einen aalglatteren Typ als Marc Chastain gab es wohl kaum.
Doch es gab noch eine schlimmere Möglichkeit. Was war, wenn er einfach aus Mitleid heraus gehandelt hatte?
Sie stöhnte und legte die Hand über die Augen. Toll. Echt toll. Sie war das Erbärmlichste, was man sich vorstellen konnte: ein Gnadenfick.
Karen verdrehte den Kopf und sah zu dem blinkenden Licht auf dem Anrufbeantworter hinüber. Sie brauchte sich die Nachrichten nicht anzuhören; sie konnte hingehen und sie einfach löschen. Sie mußte sich nicht seine dunkle Samtstimme mit dem verführerischen Südstaatenakzent anhören oder, noch schlimmer, sie nicht hören. Vielleicht dachte er sich ja auch nur, was soll’s, und machte sich weiter keine Gedanken um sie. Vielleicht gab’s ja gar nichts zu löschen.
»Verdammt, verdammt.« Die Worte waren laut und vernehmlich. »Verdammt, verdammt, verdammt.« Das Wiederholen half leider auch nichts. Sie mußte der Wahrheit ins Auge sehen, einer Wahrheit, die sie krampfhaft vor sich zu verbergen versucht hatte, doch ihre Unfähigkeit, an etwas anderes als an ihn zu denken, machte ein Ausweichen nicht länger möglich. Sie hatte etwas weit Schlimmeres getan, als nur mit ihm zu schlafen; irgendwann während der letzten drei Tage hatte sie sich in ihn verliebt.
Sie hatte sich eingeredet, daß es nur daran lag, daß er so hilfsbereit war in einer Zeit, in der sie Hilfe dringend brauchte, aber ihr Herz hatte wie wild geschlagen, sobald sie ihn nur sah.
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