Vor uns die Nacht
sich spannt. Lasziver könnte er kaum posieren. Die Jeans – er trägt eine, dem Himmel sei Dank – hängt unterhalb der Hüftknochen. Bei einem unrasierten Kerl würde man den Ansatz des Schamhaars sehen. Er hat offenbar keines und ich traue ihm zu, dass er es sich mit Wachs entfernen lässt.
Denn dieses Foto hat mit Sex zu tun. Er preist seinen Körper an. Ich rücke noch ein wenig näher, stelle meine Augen schärfer. Ja, das ist er. Obwohl ich mich immer schlechter an diese unwirklichen Szenen von heute Nacht erinnern kann, beweist mir das warme Fluten in meinem Bauch, dass ich ihn vor mir habe. Es ist sein Blick, der mich darin so sicher sein lässt – vom Betrachter weg –, irgendwo nach oben gerichtet, und doch ist Jan so präsent, dass ich das Gefühl habe, ihn erschnuppern zu können, wenn ich meine Nase nur nah genug an das kleine Display halte.
Doch dann lese ich den Namen der Internetseite: Hot-jung-sexy, ja, das mag zutreffen, aber solche Namen gehören zu Seiten, bei deren Besuch gleich zehn Pop-ups aufploppen und vier davon Viren enthalten. Deren Betreibern geht es nur um eines: den Usern das Geld aus der Tasche zu ziehen. Was hat Jans Bild dort verloren? Trotz des eindeutigen Namens macht die Seite einen optisch edlen Eindruck. Das verwirrt mich zunehmend. Ist es also doch wahr, was Jonas gesagt hat? Jan wickelt Frauen nicht nur um den Finger, um das Leben zu genießen und sich ein wenig Luxus zu gönnen, sondern bietet sich ihnen sogar im Internet an? Dann ist er tatsächlich ein Callboy. Selbst wenn er nur ab und zu darauf eingeht – es ändert nichts. Sofort schiebt sich ein Bild in meinen Kopf, wie brillantenbesetzte Frauenhände mit leuchtend rot lackierten Nägeln sein Hemd aufknöpfen und …
»Pfui«, sage ich tadelnd. Vor allem aber bin ich enttäuscht. Jetzt macht auch seine Nachricht von heute Morgen Sinn. Normalerweise müsste ich ihn dafür bezahlen, ihn anstarren zu dürfen und mich dabei … oh nein, er hat doch nicht etwa gedacht, dass es mich scharfmachte, ihn zu verfolgen und anzuglotzen?
Das war nicht so, das darf er niemals denken, es hat mich nicht scharfgemacht, es … es war aufregend. Es war dasselbe Gefühl, das ich manchmal habe, wenn wir tagelang auf den Knien im Staub graben und ich plötzlich die scharfe Kante einer Tonscherbe unter meiner Fingerkuppe spüre. In solch einem Moment gibt es nichts anderes mehr als das, was sich vor mir verbirgt. Die Sonne kann noch so heiß brennen und meine Kehle ausgedörrt sein vor Durst, ich muss diese eine Scherbe haben. Denn hinter jeder Scherbe könnte sich ein Schatz verbergen. Man weiß nie, wo man auf einen Schatz stößt. Es könnte überall passieren.
Aber Jan ist ein Mann. Nein, ein Junge, der gerne ein Mann wäre. Und offenbar ist er käuflich. Ich möchte nicht zu jenen Frauen gehören, die auch nur in irgendeiner Form dafür bezahlen müssen, seine Aufmerksamkeit zu gewinnen. Weder mit Geld noch mit Anbetung noch mit Sex.
Seufzend rolle ich mich auf die Seite, gebe mich meiner enttäuschten Erschöpfung hin und registriere im Einschlafen gerade noch, dass die Wohnungstür aufgeschlossen wird. Jonas ist da.
Kurz verspannt sich mein Nacken, doch dann begreife ich, dass ich hier, bei ihm, in Sicherheit bin.
Er wird mir niemals etwas Böses tun.
Grauzonen
V ergiss es, ich geh wieder.«
Auf dem Absatz mache ich kehrt und will an Johanna vorbei die Treppe zurück nach unten laufen, doch ich habe die Rechnung ohne eine Truppe Feiernder gemacht, die mir den Weg versperren. Zwei davon kenne ich sogar vom Sehen und komme nicht umhin, sie zu grüßen, um ihnen ein frohes Neues zu wünschen – für Johanna eine günstige Gelegenheit, sich so zu postieren, dass sie mir ins Gesicht sehen kann, sobald ich meine Flucht fortsetzen will. Ihren lieben braunen Rehaugen konnte ich noch nie widerstehen. Das weiß sie.
»Er ist einer von vielen, da stehst du doch drüber. Außerdem bin ich ja bei dir. Komm schon, es wird bestimmt lustig. Besser jedenfalls, als da draußen weiter Krieg zu spielen.«
Das hier ist ebenfalls Krieg – ein viel zerstörerischerer Krieg, als an Silvester Chinaböller zwischen die Beine geworfen zu bekommen und unfreiwillige Sektduschen über sich ergehen zu lassen. Die Hauptstraße hat sich auch dieses Jahr pünktlich um Mitternacht in ein Schlachtfeld verwandelt, noch dazu hat es angefangen, in Strömen zu regnen, aber lieber würde ich inmitten des Lärms und der betrunkenen Menschen stehen, als
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