Vor uns die Nacht
etwas sucht, das sie niemals finden wird – ihre vor Panik geweiteten Augen und ihr tränenüberströmtes Gesicht, mit dem sie mir begegnete, als sie mich unter diesem Fliederbusch hervorzerrte und vor Erregung ihre Nägel so fest in meine weißen Arme krallte, dass man ihre Halbrunde noch tagelang auf meiner Haut sah. Ich hatte versucht, die Wurzeln des Flieders auszugraben, stundenlang, mit meiner kleinen blauen Sandkastenschaufel. Nach einiger Zeit war ich so tief ins Erdreich vorgedrungen, dass ich mich wie ein Häschen in diese kühle, dunkle Grube setzen und weitergraben konnte. Man hatte mich nicht mehr gesehen. Sie müssen mich stundenlang gesucht haben, nicht im Garten, sondern außerhalb des Hauses, zusammen mit Johanna und Jonas und gegen Abend sogar mithilfe der Polizei. Selbst ihre Rufe hatte ich nicht gehört, so versunken war ich in mein Spiel gewesen. Ich wollte an die Enden der Wurzeln gelangen – dort, wo sich die Edelsteine befinden. Wer kann schon sagen, ob es ein Märchen ist oder nicht?
»Du bist ihr einziges Kind, Ronia. Sie möchte dich nicht verlieren.«
»Ihr verliert mich, wenn ihr mich nicht endlich freilasst. Und zwar für immer«, erwidere ich und spüre, dass ich nicht übertreibe. So wird es sein. »Es war im August, oder? Sie musste es im August zur Welt bringen.«
»Ja. Zehnter August.« Vater wendet sich ab, um seine Fassung zu bewahren. »Es war der zehnte August gewesen.« Und ich – ich wuchs in einem Nebel der Tränen und Trauer und Angst auf, ohne dass ich es je wusste. Wen wundert es, dass ich nach Schätzen grub? Ich wollte ans Licht.
»Ihr müsst mich freilassen. Ich kann diese Lücke nicht füllen, es geht nicht. Und ich muss nach Frankreich, jetzt erst recht. Das alles hier ist nicht mein Leben, verstehst du? Es ist ihres.« Es tut mir so weh, das zu sagen. Wie gerne würde ich wie ein braves Kind hinunter zu Mama in den Garten gehen, sie in den Arm nehmen und sagen, dass ich bleibe. Doch ich bin nicht ihr kleiner Sohn. Ich bin Ronia. Nur Ronia – und das ist genug. Wahrscheinlich war ich es nie so sehr wie in diesem Moment, denn vorher stand ich im Schatten eines Brüderchens, von dessen Existenz ich keine Ahnung hatte.
»Ich muss hier weg, Papa. Ich kann nicht atmen.« So groß und weit das Haus auch ist mit seinem runden Garten und den vielen hohen Räumen – ich will hier nicht mehr sein.
»Ich verstehe.« Vater räuspert sich ein paar Tränen weg. Auch sie schneiden mir ins Herz. »Wir lieben dich, Ronia. Bitte pass auf dich auf.«
Ohne etwas zu erwidern – ich kann nicht, nicht jetzt –, lasse ich Vater in seinem verwüsteten Büro alleine und verlasse das Haus durch die Vordertür. Ich werde wiederkommen, ja, und mit Mama reden, aber nicht vor Frankreich. Erst danach. Wenn ich es will und kann. Ich verstehe, warum sie es mir all die Jahre verschwiegen haben, wahrscheinlich fürchteten sie überdies den Schmerz, der kommen würde, wenn sie darüber sprachen.
Trotzdem war es nicht in Ordnung. Sie haben mich getäuscht und benutzt und es gibt nur einen Menschen, mit dem ich meinen Schmerz in diesem Moment teilen möchte. Nicht Jonas oder Johanna. Sondern Jan.
Schon auf dem Weg zu ihm heule ich hemmungslos vor mich hin, doch ich bin nicht bereit, Rücksicht zu nehmen.
Ich nehme Rücksicht, seit ich denken kann, bewusst und unbewusst.
Das Maß ist voll.
Mein eigener Morgen
O kay, ich heule, und ich bin nicht in Stimmung für Sex oder für Streitereien, ich will einfach nur … ich … Scheiße.«
»Hi, Ronia. Willst du rein …?«
Doch ich bin schon an ihm vorbeigestürmt, knalle meinen Rucksack in den Flur, wobei ich beinahe Ganesha von seinem angestammten Platz fege, und erobere als Erstes das Badezimmer, wo ich mir einen Schwung kaltes Wasser ins Gesicht schütte, um meine Tränen und den Rotz abzuspülen. Jan bleibt abwartend hinter mir stehen und schaut mir schweigend zu. Erst als ich mir gründlich meine Nase geputzt und ein paar nasse, dunkle Ringellocken aus der Stirn gestrichen habe, drehe ich mich wieder zu ihm herum.
»Sie hätten es mir sagen müssen! Verdammt noch mal, sie hätten es mir sagen müssen!«
»Kannst du mich mal aufklären? Was hätten sie dir sagen müssen? Dass die Erde rund ist? Und vor allem wer?«
»Meine Eltern! Sie hätten es mir sagen müssen. Ich bin so wütend und traurig, ich kann mich nicht entscheiden …« Weil ich seinen fragenden Blick nicht ertrage, rausche ich an ihm vorbei in die Küche und stelle
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