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Vor uns die Nacht

Vor uns die Nacht

Titel: Vor uns die Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bettina Belitz
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Auch Vater weint. Ich spüre es, ohne aufzublicken.
    »Erzähl mir alles«, flüstere ich. »Ich habe etwas gefunden und du musst es mir erklären. Du musst!« Nur er kann es. Meine Wut ist verklungen, nun bettele ich nur noch. Mit tauben Knien sinke ich zu Boden. »Was hat das zu bedeuten?«
    Es ist wie bei den verwitterten Stücken einer Vase, die man beim Graben entdeckt. Man weiß, dass sie ein Ganzes ergeben, obwohl man es noch nicht erkennen kann – und hat keine Ruhe, bis sich das Bild der Vase abzuzeichnen beginnt. Ich muss die restlichen Scherben finden. Vater setzt sich zu mir, inmitten seiner Bibeln, und lehnt sich mit dem Rücken an die Heizung, die Augen geschlossen.
    »Gut. Dann erzähle ich es dir. Vielleicht hättest du es längst wissen sollen, aber wir wollten dich schützen. Glaub mir, Ronia, wir wollten dich schützen. Du warst doch noch so klein.«
    Wieder fange ich an zu weinen. Etwas Dunkles, Undurchdringliches senkt sich über uns. Oder sehe ich es erst jetzt? War es immer da gewesen, die ganze Zeit?
    »Wir wollten mehr als nur ein Kind haben, deine Mutter und ich. Mindestens drei. Das war unser gemeinsamer Traum gewesen – eine große Familie. Und so wurde sie schon ein Jahr nach deiner Geburt wieder schwanger, mit einem kleinen Jungen. Doch es …« Vaters Stimme wird brüchig und er muss sich räuspern, um weitersprechen zu können. »Es hatte nicht sein sollen. Sie bekam eine schwere Gestose und das Kind starb im Mutterleib. Sie musste den Jungen tot zur Welt bringen, im siebten Monat.«
    Ich bin unfähig zu antworten. Ich hatte ein Brüderchen gehabt. Ein Jahr alt war ich damals gewesen, natürlich kann ich mich nicht erinnern, und die Fotos von Mama mit Bauch werden sie aussortiert haben, ich habe sie niemals gesehen. Doch mein Bruder war da. Es hat ihn gegeben, sechs Monate lang hat er gelebt, in Mamas Bauch.
    »Danach durfte deine Mutter keine Kinder mehr bekommen, aber wir hatten ja dich, du warst unser Sonnenschein, wir waren glücklich mit dir und sind es jeden Tag. Wir lieben dich, Ronia. Zweifele niemals daran, wir lieben dich.«
    »Aber sie wollte immer ihren Sohn haben. Oder?« Ich kann nicht begreifen, wie ich überhaupt Worte formulieren kann. In mir schreit es nur noch.
    »Ich weiß es nicht mal genau, weil wir nie darüber redeten, sie konnte und wollte nicht. Aber ich glaubte, ihn ihr schenken zu müssen, und deshalb – deshalb meldete ich uns irgendwann als Pflegeeltern an. Manchmal bekamen wir übergangsweise Pflegekinder ins Haus, erinnerst du dich?«
    Ja. Und immer waren es Mädchen gewesen, die für kurze Zeit bei uns unterkamen und dann wieder gingen, sodass ich mich kaum an sie gewöhnen konnte. Es hörte auf, als ich ins Gymnasium kam und Johanna so etwas wie meine Schwester wurde, weil sie auf der Flucht vor ihrer Mutter immer öfter bei uns zu Mittag aß oder übernachtete. Aber auch sie – war ein Mädchen. Und Jonas zu alt und erwachsen, um die Rolle des kleinen, geliebten Sohns einnehmen zu können, zumal er das Kind ihrer besten Freunde ist.
    »Aber deine Mutter hatte …«
    »Nenn sie beim Namen«, unterbreche ich ihn. »Sie ist nicht nur meine Mutter. Sie ist vor allem deine Frau.«
    »Marie. Ja, Marie. Das mit den Pflegekindern wurde ihre fixe Idee, ihre Lebensaufgabe. Ich hab sie selten so glücklich und zufrieden erlebt wie in diesen Wochen, wenn sie alles für die Kinder vorzubereiten begann und wahrscheinlich innerlich auf einen Jungen hoffte. Doch irgendwann erschien es mir wie – wie ein Trick. Es war nicht ehrlich. Wir nutzten diese Kinder aus.«
    Ich stehe auf und schlurfe zurück ans Fenster. Mama kniet am Fliederbusch und fächert die Zweige auseinander, als würde sie etwas zwischen ihnen suchen.
    »Ich habe eines Tages beschlossen, dass wir das uns und den Kindern nicht mehr antun. Wir hatten ja dich. Aber – wenn du jetzt gehst und dich immer weiter von uns entfernst, dann – das verkraftet sie nicht. Sie wird es nicht verkraften.«
    »Nein, Papa, sie hat das andere nicht verkraftet, mein Brüderchen, das nicht kommen wollte. Ich kann nichts dafür und ich kann es auch nicht wiedergutmachen. Ich habe nichts damit zu tun! Bitte lass mich frei, in Frieden, bitte. Du wolltest die anderen Kinder nicht benutzen – aber bei mir, deinem eigenen Kind, darfst du es?«
    »Nein, das darf ich wohl nicht.«
    Nun erhebt auch er sich und tritt neben mich. Plötzlich schiebt sich eine frühe Erinnerung vor das Bild von Mama, die zwischen den Zweigen

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