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Vor uns die Nacht

Vor uns die Nacht

Titel: Vor uns die Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bettina Belitz
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mich an das offene Fenster. Wie anders dieser Garten ist. Das Gras wächst hoch und wild, die Büsche müssten dringend nachgeschnitten werden und die Äste der beiden Apfelbäume winden sich knorrig und ungestutzt der Sonne entgegen. Er ist wunderschön. Seine Kühle streift mein Gesicht, als würde er mir zuatmen, und beruhigt mich ein wenig.
    Doch als ich an den kleinen Fußabdruck denken muss, lösen sich erneut Tränen aus meinen Augen. »Tut mir leid, ich kann nicht aufhören zu weinen. Guck einfach weg.«
    »Also, es ist jetzt nicht so, dass ich Angst vor Tränen habe, ja? Ich bin kein Feigling, hab ich dir schon mal gesagt. Warte.« Jan reißt ein Stück Küchenrolle ab und reicht es mir, bevor er mich an der Hand zu einem der Korbstühle führt, die seinen kleinen Tisch säumen. Ich muss lächeln, als ich sehe, dass er dieses Mal von einem anderen bunten Tuch bedeckt ist. Außerdem stehen Einmachgläser darauf, was zu dem süß-fruchtigen Geruch passt, der meiner Nase schmeichelt. Jan kocht Marmelade. Oder …?
    »Ist hier noch jemand? Hast du Besuch?«, frage ich angespannt und deute auf den großen Topf, in dem es leise köchelt.
    »Nein. Ich mach nur Marmelade aus den Stachelbeeren im Garten. Sind so viele. Und eine davon sitzt gerade in meiner Küche.«
    Nun wird aus meinem Lächeln sogar ein kurzes Lachen.
    »Ich wüsste gar nicht, wie man Marmelade macht.«
    »Ist eigentlich ganz einfach, du brauchst nur Zeit und Ruhe und die hab ich leider grad gar nicht, weshalb …« Geschickt packt er den Topf und kippt seinen Inhalt sorgfältig in die aufgereihten Gläser, bevor er sie zum Auskühlen auf die Fensterbank stellt. »So. Vielleicht kann ich sie noch schließen, bevor ich losmuss. Sonst ist es halt Marmelade für die Fliegen. Auch gut.«
    »Soll ich besser wieder gehen?« Er scheint in Eile zu sein. Aufdrängen will ich mich auf keinen Fall.
    »Nein. Willst du mir nicht endlich erzählen, was passiert ist? Hat es was mit deiner Krankheit zu tun? Egal, was es ist, es wird sich schon handeln lassen.«
    Erschrocken richte ich mich auf. »Nein, nichts Neues von der MS-Front.« Au Backe, dachte er etwa, ich habe eine neue Hiobsbotschaft von meinen Ärzten erhalten? Womöglich habe ich ihm gerade einen mächtigen Schrecken eingejagt. »Nein, das ist es nicht, entschuldige. Es ist etwas anderes und es kommt mir gerade viel schlimmer vor.«
    Ich traue mich kaum, es auszusprechen, weil ich dann erneut den Schmerz meiner Mutter fühlen werde. Doch eigentlich trage ich ihn bereits mein Leben lang in mir. Für ein paar Sekunden legt Jan seine Hand auf meine, eine vertraute, freundschaftliche Geste, die mir ein wenig Sicherheit zurückgibt. »Ich hatte ein Brüderchen. Er wäre jetzt so alt wie du. Er ist … meine Mutter musste ihn tot zur Welt bringen.« Ich will mir das nicht ausmalen, es ist das Qualvollste, was ich mir vorstellen kann. Meine Krankheit ist ein Scherz der Natur im Vergleich zu dieser Qual. Ich würde dabei sterben. Doch anstatt zu sterben, starb meine Mutter seitdem jeden weiteren Tag ein kleines bisschen. Ich hatte dabei zugesehen, ohne es zu kapieren.
    »Oh nein.« Jans Betroffenheit wirkt so ehrlich, dass ich es nun bin, die seine Hand streichelt. »Das tut mir leid für dich und deine Eltern. Muss furchtbar gewesen sein. Was für eine Scheiße.«
    »Du sagst es. Ich wusste bis heute nichts davon. Und hätte ich nicht zufällig ein Foto von seinem Fußabdruck gefunden, dann …« Hätten sie es geschafft, mich zu erpressen? Ich glaube nicht. Und doch war es wie ein Paukenschlag. »Ich meine, es ändert alles. Alles. Ich kann mein ganzes Leben neu schreiben.«
    »Das ist vielleicht nicht das Schlechteste. Denn du könntest Dinge verstehen, die du vorher nie verstanden hast. Und dich von ihnen lösen. Oder nicht?«
    »Mag sein.« Mit gerunzelter Stirne denke ich zurück, während unsere Hände ruhig aufeinander liegen bleiben. Die Pflegekinder gaben Mama also Kraft, lenkten sie ab. Ja, ich kann mich daran erinnern, dass Mama sehr aufgedreht war, wenn Pflegekinder zu uns kamen, aber dann – was war dann? Als Papa dem einen Riegel vorschob und sie ihre Energien sich auf mich fokussierten? Ich war damals erleichtert, dass es aufhörte, weil diese Kinder für mich wie ein Fremdkörper waren. Aber wenn ich an die Zeit danach zu denken versuche, kommt mir nur Tom in den Sinn, ein cooler, lang gewachsener Typ aus der Oberstufe – der Erste, bei dem ich mir irgendwann vorstellen konnte, mit ihm in

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