Vor uns die Nacht
schaut hinunter zu Mama, als würde er meine Nähe gar nicht bemerken.
»Mir macht das alles Angst, Papa.«
Seine rechte Hand hebt sich wie in einem Impuls, als ich »Papa« sage, die Andeutung einer lieben, tröstenden Geste, doch dann hat er sich wieder im Griff. Er verströmt Kühle, wie seine Kirche, in der die Temperatur einen selbst an den heißesten Sommertagen kalte Schauer über den Nacken schickt. Doch darunter fließt warmes Blut. »Jan ist nicht so, wie ihr denkt. Er hat was auf dem Kasten, glaub mir, die meisten anderen Typen können ihm nicht das Wasser reichen. Er ist auch kein schlechter Kerl. Du kennst ihn doch gar nicht! Warum ist er dir so wichtig?«
Ich sage bewusst »dir« und nicht »euch«. Er allein soll es mir erklären und er soll die Wahrheit sagen. Nicht Mamas Version. »Warum, Papa? Willst du ihn nicht erst kennenlernen, bevor du urteilst?« Ich muss daran denken, wie Jan gestern völlig verkatert und mit verstrubbeltem Blondschopf durch die Wohnung stolperte, weil er zur Schule musste, und mich in seiner Elendigkeit zutiefst bewegte. Er hatte so gar nichts Anrüchiges mehr an sich. Mir ist, als übertragen sich die Bilder in meinem Kopf auf Vaters inneres Auge. Seine Schultern fallen herab und sein Rückgrat wird weich. Endlich löst er sich von Mama und schaut mich an.
»Ronia, wir waren stets nachsichtig mit dir. Wir haben dir schon früh die Pille erlaubt, dir gestattet, zu Jonas zu ziehen, und auch deine Beziehungen toleriert. Es war alles noch im Rahmen. Doch in diesem Punkt bleibe ich dabei, mein Kind. Du darfst ihn nicht mehr sehen.«
»Warum?«, wiederhole ich halsstarrig.
»Weil es nicht recht ist. Es ist … es ist eine Sünde.«
»Es gibt keine Sünden«, widerspreche ich, obwohl ich mir dessen nicht mehr so sicher bin, und stemme zur Bekräftigung die Arme in die Seite. »Es gibt nur Dinge, die einem gut bekommen, und Dinge, die einem nicht gut bekommen. Und er bekommt mir gut. Willst du mit mir die Zehn Gebote nachbeten oder eine glückliche Tochter haben?«
»Kind, es ist nicht recht. Mein Gott …« Papa drückt sich die Fäuste gegen die Schläfen, als würde sein Kopf bersten, während Mama unten in pure Apathie verfallen ist und nur noch dumpf vor sich hin starrt. »Er ist … Ich kenne ihn. Es reicht, ihm ins Gesicht zu sehen, um zu wissen, dass er nur Ärger bringt. Er wird dich von uns entfernen und dich noch kränker machen, als du ohnehin schon bist. Renn nicht ins Unglück und lauf vor allem nicht von uns weg.«
»Doch!«, schreie ich. »Doch, das werde ich, und er ist es nicht, der mich krank macht!« Ich weiß es so sicher wie der Tod, das ist er nicht. Vater lügt mich an. »Hör auf, mich in die Irre zu führen, Papa! Er ist an nichts schuld, an gar nichts!«
»Wie kannst du dir darin sicher sein, wie, Ronia?«, schreit er zurück. »Du hast doch kaum Lebenserfahrung!«
»Wie soll ich denn welche sammeln, wenn ihr mich hier festhaltet und ich niemals ins Ungewisse gehen darf? Du sagst doch selbst immer, man soll auf sein Herz hören! Jetzt tu ich es und es ist falsch!«
Mit beiden Armen greife ich in die vielen bunten Ausgaben seiner Bibeln und schleudere sie durchs Zimmer, bevor ich mich an der Schreibtischlampe vergehe und seine Predigtordner hinterherwerfe. Er unternimmt nichts, meinen Wutausbruch zu stoppen, auch nicht, als die Ernst-Barlach-Hand aus Speckstein daran glauben muss. Und die habe ich immer gemocht.
»Das habe ich nicht verdient!« Ich habe kaum mehr Stimme, doch das Blitzen meiner Augen macht es wett. »Was treibt dich dazu, Vater? Was? Und warum habe ich dieses furchtbare Gefühl, dass euch meine Krankheit irgendwie recht ist?«
»Ronia, denk das nicht. Bitte nicht …«, wispert Vater. Seine Not kann nicht gespielt sein. Es ist nichts Taktisches mehr in seinem Gebaren. Er ist genauso hilflos wie ich.
In einem plötzlichen Anfall von Reue lese ich die älteste und wertvollste Bibelausgabe vom Teppich auf und versuche, ihre Seiten zu glätten. Eine kleine weiße Karte mit einem aufgeklebten Papier rutscht mir entgegen. Instinktiv ziehe ich sie heraus und starre sie an. Ich habe sie nie zuvor gesehen. Kein einziger Buchstabe steht darauf – das Papier zeigt lediglich den winzigen dunkelblauen Abdruck eines Fußes. Kleiner als der eines Babys. Aber es ist ein menschlicher Fuß. Minuten, die wie Jahre erscheinen, vergehen, während ich diesen zierlichen Abdruck anschaue und nicht verstehe, was ich sehe. Doch ich muss weinen.
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