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Vor uns die Nacht

Vor uns die Nacht

Titel: Vor uns die Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bettina Belitz
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sicherheitshalber nach.
    »Ja«, erwidert Vater ruhig, aber mit gesenktem Blick. »Du kannst fahren.«
    »Das kann sie nicht! Sie darf nicht!« Mama schiebt den Stuhl zurück und zeigt mit zitternden Fingern auf Vater. Noch nie hat sie ihn so hasserfüllt angesehen. Es erschreckt mich. Was geht zwischen den beiden vor? Sie waren immer einer Meinung gewesen, immer! Das alles hier hat mit mir gar nichts mehr zu tun. Es ist ein anderer Film, mit anderen Protagonisten und ich bin unschuldig dort hineingeraten. Wo verstecken sich die Helden, um die es wirklich geht? »Du fällst mir in den Rücken! Du bist mein Ehemann und fällst mir in den Rücken!« Nun beginnt sie unkontrolliert zu schluchzen und rennt hinunter in den Garten, während Vater ohne eine Entschuldigung aufsteht und sich ins kühle Haus zurückzieht.
    »Klasse«, knurre ich, obwohl mir immer unheimlicher zumute wird. »Lauft ihr davon? Vor mir? Mama? Vater?« Doch Mama hat sich auf die schmiedeeiserne Gartenbank gesetzt und wiegt ihren Oberkörper vor und zurück, die Hände auf ihrem Gesicht, und nimmt nichts mehr wahr. »Verdammt noch mal, redet mit mir!«, brülle ich, nehme in meinem Zorn eine Tasse und werfe sie gegen die Terrassenmauer. Klirrend fallen die Scherben auf die Steinfliesen, doch noch immer bleibe ich alleine.
    »Komm rein, Ronia. Zu mir.« Vater steht im Flur und wartet auf mich. Ist klar. Niemand soll unser Gespräch belauschen können. Zu viele Ohren in den Nachbarhäusern. Der Talar soll rein bleiben.
    »Das ist ein Irrenhaus. Ein echtes Irrenhaus!«, beklage ich mich so laut, dass beide es hören können – meine hysterische Mutter im Garten und mein lauernder Vater im Dunkel hinter mir. Und vielleicht auch unsere Nachbarn. Doch ich will wissen, wer das Drehbuch für dieses Psychodrama geschrieben hat, in das ich gerade unversehens reingeraten bin. Offensichtlich bekommt nicht nur mir selbst der August schlecht. Die gesamte Familie Leonhard dreht am Rad. Widerstrebend gehe ich zu ihm.
    »In mein Arbeitszimmer.« Vater schreitet mir voraus die Treppe hoch, mit schweren Schritten wie ein alter Mann, und ich habe Mühe, mich seinem langsamen Tempo anzupassen. Sein Arbeitszimmer liegt links neben meinem; schon immer war ich zwischen ihnen eingepfercht gewesen. Rechts das Schlafzimmer, links Papas Büro. Dazwischen ich. Der sprichwörtliche goldene Käfig.
    Sobald Vater die Tür geschlossen hat, gehe ich ans Fenster und blicke hinunter in den Garten. Mama sitzt genauso da, wie wir sie eben zurückgelassen haben. Ihre Schultern zucken, geschüttelt von ihren Schluchzern, während sie sich wiegt, als halte sie ein Baby auf ihrem Schoß.
    »Was zum Teufel ist mit ihr?«, frage ich Vater beklommen.
    »Lass den Teufel aus dem Spiel. Fluch nicht in seinem Namen, das mochte ich noch nie. Die Bedingungen …«
    »Gut, du kannst sie mir sagen, bitte. Aber du sollst wissen, dass ich so oder so fahre. Egal, was ihr verlangt. Dann gehe ich danach eben jobben und zahle Kai Schuster alles zurück, peu à peu. Er wird das akzeptieren.« Mit jedem Wort wird meine Stimme klarer und ich habe das Gefühl, in die Höhe zu wachsen. »Es liegt bei euch, ob ihr meiner Laufbahn im Weg stehen wollt oder mich in dieser schwierigen Situation unterstützt. Herumsprechen wird sich eure Haltung sowieso. Entscheide du, ob das zu einem Pfarrhaus passt oder nicht.«
    »Du willst mich erpressen?«
    »Ich hatte einen guten Lehrer«, entgegne ich kalt. »Wer hat denn damit angefangen? Du oder ich?«
    »Unsere Bedingungen, die deiner Mutter und meine«, knüpft Vater müde an das Ursprungsthema an, doch er betont »Mutter« so intensiv, dass ich umgehend schrumpfe und meine Sicherheit verliere. »Du lebst danach wieder bei uns und siehst Jan von nun an nie wieder.«
    »Das ist nicht euer Ernst. Vater, hör dir mal selbst zu, du redest mit mir, als sei ich vierzehn. Ich bin erwachsen! Du kannst mir nicht vorschreiben, wo ich lebe und wen ich sehe und wen nicht. Das geht nicht.«
    »Ich sage es gerne noch einmal.« Seine Stimme wird immer leiser und schwächer. Er sieht mich nicht mehr an, sondern blickt auf Mama hinunter, die angefangen hat, unsichtbare Staubflusen von ihrem Rock zu wischen. »Du lebst wieder bei uns und siehst Jan nicht wieder. Und erwähnst ihn auch nicht.«
    »Das sind nicht deine Worte, Vater. Oder? Es sind nicht deine. Du wiederholst sie nur. Bitte erklär mir, warum. Bitte.«
    Er schweigt. Ich trete auf ihn zu und suche seinen direkten Blick, doch er

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