Vor uns die Nacht
Tränen, obwohl ich nicht weine. Ich möchte mich hinlegen – nicht hier auf dem Gästeklo, sondern in mein Bett, im Dunklen bei heruntergelassenen Jalousien, und diesen Satz immer wieder lesen. Eigentlich ist er gar nicht hässlich. Er hat nicht geschrieben: Denkst du an mich, wenn du es dir machst? Das wäre hässlich gewesen. Nein, er schrieb: wenn du dich berührst. Es ist wertfrei und doch, es ist intim. Gott, ja, das ist es. Verstörend intim.
Es kann gut sein, dass er nur etwas hören will, das ihn aufgeilt, oder aber … Nein, eine klare Antwort werde ich ihm nicht geben, selbst wenn er es noch so schön formuliert. Würde ich ehrlich sein, bestünde sie aus zwei Buchstaben. Ja. Ich habe an ihn gedacht. Ich wollte es nicht, es ist einfach geschehen – und es war anders als sonst. Es hat länger gedauert, viel länger. Weil ich plötzlich das Gefühl hatte, er sei da, schaue mir dabei zu, ohne mich zu sehen, vielmehr wie eine Begegnung unserer inneren Bilder. Als könne er es spüren, wenn ich komme. Das war der Grund, weshalb ich aufhörte, kurz bevor ich mich vergaß. Ich hatte Angst, dass er es tatsächlich wittern kann.
Was ausgemachter Blödsinn ist, aber warum dann diese Frage? Zufall? Nun, Johanna hat mir vorhin eindrucksvoll demonstriert, wie man auf überflüssige Fragen am besten reagiert. Mit einer Gegenfrage.
»Tust du es denn, wenn du dich berührst?«
Halt, stopp. Daraufhin käme sicher ein grinsendes Ja als Antwort. Denn es ist missverständlich. Klar denkt er an sich. Jemand wie Jan denkt immer als Erstes an sich, auch dabei.
»Denkst du denn an mich, wenn du dich berührst?«
Mein Finger ist schon fast auf Senden, da ziehe ich ihn wieder zurück, als habe ich mich verbrannt. Ich muss es umgekehrt formulieren. Es ist doch gut möglich, dass er sich berührt und seine Liebhaberinnen ihm dabei zusehen – oder er es gar für sie filmt? Bei derlei Aktionen soll er bitte niemals an mich denken. Und wenn, möchte ich es nicht wissen. Fieberhaft lösche ich meine Worte und fange wieder von vorne an.
»Berührst du dich denn, wenn du an mich denkst?«
Genau. So stimmt es. Denn dann betrifft es nur mich. Das Berühren folgt dem Gedanken, folgt meinem Namen. Seiner Idee von mir. Wenn, dann soll es so sein und nicht anders. Kann ich das abschicken? Tut man so etwas? Müsste ich ihn nicht sofort sperren und komplett ignorieren?
Ein paar Sekunden lang verharre ich und horche in mich hinein. Mein Bauch ist ruhig geworden, fast träge. Mein Herz pocht – stark und gleichmäßig. Meine Wangen haben eine Außentemperatur von circa 45 Grad erreicht. Mein Nacken ist entspannt. Alles zusammen fühlt sich an wie ein Ja.
»Okay, dann los«, flüstere ich und schicke die Nachricht ab. Sofort kann ich beobachten, wie Jan online geht und mir der Messenger verkündet, dass er die Nachricht gelesen hat. Willkommen in der modernen Überwachungsgesellschaft. Obwohl ich solche Details eigentlich nicht wissen möchte, starre ich wie magnetisiert auf das Display.
»J. schreibt«, informiert mich Facebook. Er antwortet mir … oje, er antwortet. Was auch immer hier gleich erscheint, es wird mir verraten, ob ich ihn wiedersehen kann oder nicht.
»Ja, ich raufe mir manchmal die Haare.«
Jetzt brennen nicht nur meine Wangen, sondern mein ganzes Gesicht, mein Hals, mein Dekolleté. Ich hätte niemals reagieren dürfen. Er rauft sich die Haare, wenn er an mich denkt. Jan, du bist so ein … Moment. »J. schreibt etwas.«
Ich schließe die Augen, lehne mich zurück, versuche zu atmen, was immer schwieriger wird, und als das sanfte Vibrieren des Handys mir endlich verkündet, dass seine Nachricht angekommen ist, wage ich es einen Moment lang nicht, nach unten zu sehen. Doch wie immer siegt meine Neugierde.
»;-) Ich sag es dir heute Abend.«
Na klasse. Er vertröstet mich und legt eine dramaturgische Pause ein. Trotzdem muss ich grinsen, nein, sogar lachen. Es war nur ein Scherz gewesen. Zum Glück, er hat gescherzt.
»Ich kann heute Abend nicht laufen gehen. Wir tragen hier den Karfreitag zu Grabe. Kann dauern. Er sperrt sich.«
Klick, abgeschickt. Langsam komme ich ihn Form. Er schreibt erneut etwas … Wir schreiben miteinander! Kann das wirklich wahr sein? Ja, und es ist fordernder als der furchterregendste Horrorfilm. Denn ich bin mittendrin und habe das Gefühl, die Höllenfahrt kann jeden Moment kippen und meinen Tod bedeuten. Wieder vibriert das Handy.
»Lach … ich sag es dir trotzdem heute
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