Vor uns die Nacht
meine Mutter mich nicht minder geisterhaft anblickt. Ich muss für sie eine Erscheinung aus einer anderen Welt sein, doch sie ist es für mich ebenfalls. Wie die Gäste aus meiner Zaziki-Erinnerung trägt sie Schwarz; schwarzer Rock, schwarzes Oberteil, lediglich der Schal erlaubt sich Farbtupfer in Rostbraun und Petrol.
»Ronia, da bist du ja endlich. Wie siehst du denn aus?«
Ihre Augen verfangen sich fragend auf meinem knallpinken Snoopy-Shirt und gleiten dann nach unten zu meiner engen, verwaschenen Jeans und meinen karierten Chucks. Ganz normale Archäologiestudenten-Freizeitkleidung. Was ist so verkehrt daran? Und warum trägt sie Trauer? Oh Gott, es wird doch nichts Schlimmes passiert sein?
»Ist jemand gestorben?«, frage ich piepsig, was mir durch den Kopf schießt, als ich all die beunruhigenden Zeichen, die sich mir präsentieren, zusammenzähle.
»Machst du dich etwa jetzt darüber lustig?« Mama tritt einen Schritt beiseite, damit ich hereinkommen kann. »Und zieh dir bitte was anderes an, das ist wirklich unpassend. Oben sind noch deine Blusen im Schrank.«
»Hi!«, rufen Johanna und Jonas im Chor aus der Küche. Verunsichert luge ich um die Ecke und wage mich herein. Beide wurden mit Hausarbeit eingedeckt. Johanna hackt Dill, Jonas schiebt Servietten in bronzene Ringe. Ein penetranter Geruch nach gekochtem Fisch schlägt mir entgegen. Im Wohnzimmer brennen bereits Kerzen und es läuft die Johannes-Passion – und mir beginnt es endlich zu dämmern. Oh mein Gott. Heute ist Karfreitag. Wenn ich nicht zufällig hier aufgeschlagen wäre, wäre mir das Jüngste Gericht sicher gewesen – und auch die direkte Fahrkarte ins Fegefeuer. Am Karfreitag gibt es im Hause Leonhard null Toleranzspielraum. Von Kind an hatte ich die seltene Gabe, das immer wieder zu vergessen und pünktlich zu Jesus’ Kreuzigung laut zu singen, Musik aufzudrehen, zu tanzen oder herzhaft zu lachen. Alles verboten. Jedes Jahr mussten mir diese Verbote aufs Neue eingetrichtert werden – bis ich erwachsen war und es mir mit viel Disziplin und neonfarbenen Memos merken konnte.
Mehr schlecht als recht unterdrücke ich ein Kichern, als ich an meine Frage an der Tür denken muss. »Ist jemand gestorben?« Oh, und wie. Es war Gottes Sohn persönlich.
»Ronia, wieso stehst du herum wie ein Ölgötze?« Mama schiebt mich zur Seite, um an das Regal mit den Servierschüsseln zu kommen. »Wolltest du dich nicht umziehen? Wir sind schon gefragt worden, warum du nicht im Gottesdienst warst. Du hättest ruhig Bescheid sagen können, dass du … tja, was eigentlich?«
Na, die hat ja prächtige Laune. Hab mich am Hintern gekratzt, würde ich gerne antworten, besinne mich aber in letzter Sekunde auf eine weniger pampige Reaktion.
»Gelernt«, erkläre ich ruhig. »Und mit meinem Dozenten telefoniert. Ich muss endlich mal …«
»Johanna, gehst du mit Ronia nach oben und suchst ihr etwas zum Anziehen heraus? In zehn Minuten ist das Essen fertig.«
Mittagessen mit Kochfisch um 15 Uhr am Karfreitag mit einem Knoten im Bauch – besser geht’s nicht. Alles Dinge, die ich nicht mag. Doch ich tappe Johanna hinterher in den Flur und die Treppe hinauf, bis wir in meinem Zimmer sind und ich unsanft die Tür ins Schloss fallen lasse.
»Du hast es vergessen, oder?« Johanna lächelt verschmitzt, was es mir etwas leichter macht, sie anzusehen.
»Mal wieder«, gestehe ich ohne schlechtes Gewissen. Ich habe den Sinn von Karfreitag nie richtig verstanden. Dass man Jesus’ Kreuzgang gedenkt – ja, sehe ich ein. Aber Ostern ist jedes Jahr an einem anderen Termin. Karfreitag ist nicht der Tag, an dem er gestorben ist. Es ist nur ein beliebiger Tag, an dem man gefälligst daran denken soll. Jesus selbst ist es doch schnurzegal, wann man das tut. Ganz abgesehen davon, dass er tot ist und somit nicht merken kann, ob man an ihn denkt oder nicht. In einem bin ich mir ohnehin sicher: Er hätte nicht gewollt, dass man an diesem Tag weder lacht noch singt noch tanzt. Und keine Snoopy-Shirts tragen darf.
Trotzdem stelle ich zutiefst enttäuscht fest, dass ich mir das abendliche Joggen aus dem Kopf und vor allem aus dem Herzen schlagen muss. Hier komme ich vor zwanzig Uhr nicht mehr raus. Ich müsste eine Krankheit vorgaukeln, aber selbst das wäre sinnlos, denn dann würde Mama mich genau in dieses Zimmer verfrachten und auf keinen Fall zurück in die WG gehen lassen. Würde ich doch in die WG gehen und von dort aus türmen, würde Jonas mich verpetzen. Ich
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