Vor uns die Nacht
sitze in der Falle. Also wieder eine lange Woche warten und meinen Reizdarm pflegen. Doch selbst wenn ich laufen gehen würde – ich würde es kaum fertigbringen, dabei amouröse Begebenheiten herauszufordern. Dazu bin ich zu sehr Pfarrerstochter – und zu abergläubisch, zumal ich heute in meinem Nebel schon ausgiebig am moralischen Abgrund balanciert bin. Aber da war ich mir des Karfreitags nicht bewusst. Jetzt kann ich ihm nicht mehr ausweichen. Sobald ich Jan berühren würde, würde ich Vaters strengen Blick vor mir sehen.
»Die da?« Johanna hält mir eine dunkelgraue Bluse mit dünnen weißen Streifen hin.
»Josy, ganz ehrlich, was juckt es Jesus, ob ich Schwarz oder Pink trage?«
»Dann kannste ja auch Grau tragen«, erwidert Johanna pragmatisch und wirft sie mir hin. Rasch schlüpfe ich aus meinem Shirt. »Wow. Nicht übel. Neu? Sag mal …« Johanna macht einen Schritt in meine Richtung, um genauer schauen zu können. »Sind die größer geworden?«
»Quatsch, ist der BH.« Ohne jedes Feingefühl stülpe ich mir die Bluse über den Kopf, damit es schneller geht und Johanna mich nicht allzu neugierig begutachten kann. Das Corpus Delicti, einen schwarzen Push-up, trage ich zum ersten Mal. Er war viel zu teuer und ist etwas zu raffiniert, inklusive seiner kleinen Gelkissen, die selbst aus meiner Mini-Körbchengröße einen sichtbaren Busen zaubern. Aber man weiß ja nie. Das ist meine neue Devise. Man weiß ja nie. Auch wenn ein Sport-BH für eine abendliche Joggingtour sicher die angebrachtere Variante wäre. Oder gar kein BH? Auf die Idee bin ich noch gar nicht gekommen. Aber sie ist nicht verkehrt. Denn …
»Bist du denn jetzt einverstanden? Mit Max? Du knöpfst sie grad falsch zu, Ronia. Deine Bluse …«
»Oh, stimmt.« Fahrig öffne ich die oberen Knöpfe wieder und versuche es ein zweites Mal. »Na ja, wenn es dich glücklich macht.« Man hört mir deutlich an, dass es mich nicht glücklich macht. Ich kann mich immer noch nicht daran gewöhnen. Es fühlt sich falsch an, wie ein Puzzleteil, das zwar optisch passt, aber sich nicht exakt in die Lücke fügt, sondern wackelt und Luft hat. Es wird nicht halten. »Wie ist es denn mit ihm?«, lenke ich ab, bevor die Stimmung wieder kippt. Johanna spricht zwar mit mir, als sei nichts Erwähnenswertes vorgefallen, doch ich spüre eine Distanz zwischen uns, wie ich sie nur selten erlebt habe. Ich fühle mich unwohl mit ihr in einem Zimmer.
»Du bist ziemlich zerstreut in letzter Zeit, findest du nicht?«
Oh, eine Gegenfrage. Nun kann ich mir denken, warum sie hier ist: Meine Eltern haben sie eingeladen, genauso wie Jonas, der jedem Karfreitag beiwohnen musste, seitdem er dem Sandkasten entwachsen ist. Sie müssen miteinander gesprochen und beschlossen haben, mich mit vereinten Kräften auszuhorchen. Kann spaßig werden. Denn selbst vor der heiligen Inquisition werde ich über Jan und mich nichts ausplaudern und auch nicht über die Beinahe-Vergewaltigung, an die ich nicht mehr denken kann, ohne auch an Jans Hand auf dem breiten Hundekopf zu denken. Das macht die Erinnerungen um einiges erträglicher.
»Ach, du weißt doch, das ist mein Karfreitags-ADS. Hatte ich schon immer. Gehen wir zu den anderen?«
Ich warte ihre Antwort nicht ab, sondern mache mich auf den Weg nach unten ins Esszimmer, wo die Johannes-Passion weiterhin für depressive Stimmung sorgt und ein hässlicher Kabeljau ein Bad in Dill und Zitronen nimmt. Vater hat sich bereits ans Tischende gesetzt und sendet mir mit einem einzigen Blick so viele ermahnende Bibelverse, wie andere Pfarrer sie gar nicht in eine Predigt packen können.
»Würdest du bitte, Ronia?«, erinnert mich Mama in angestrengt heiterem Ton. Artig greife ich nach Jonas’ und nach Johannas Hand und atme einmal tief durch.
»Komm, Herr Jesu, sei unser Gast und segne, was du uns bescheret hast.« Deinen eigenen Leichenschmaus, fülle ich in Gedanken die jetzt folgende Kunstpause. Die habe ich bei Vater abgeguckt. »Amen.«
Ich kann nicht verhindern, dass Mama mir Fisch auf den Teller lädt. Dabei sehe ich mich nicht einmal imstande, ein trockenes Salzkartöffelchen in meinen Magen zu zwingen. Obwohl ich nun keinen Grund mehr habe, nervös zu sein, ist mein Bauch wie verschlossen und blubbert gleichzeitig lautstark vor sich hin.
»Warum bist du nicht ans Telefon gegangen, Ronia?«, fragt Vater, ohne mich dabei anzusehen. Sein Ton ist neutral, doch ich fühle mich zunehmend unter Druck gesetzt. Er fragt nicht
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