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Vor uns die Nacht

Vor uns die Nacht

Titel: Vor uns die Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bettina Belitz
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seinetwegen, sondern wegen Mama. Ich habe Mama enttäuscht und sie warten lassen. Das tut man nicht als gute Tochter.
    Richtig, ich bin nicht drangegangen, weil ich dachte, es sei ein zweites Mal Kai Schuster. Auch das Handy hatte ich offline geschaltet. Vermutlich stapeln sich dort Nachrichten und Mails von Mama, Johanna und Jonas. Ich muss schauspielern, um mich und die Stimmung zu retten.
    »Aber ich habe doch mein Handy immer bei mir … oh …«, mime ich die Erstaunte und runzele die Brauen, als ich es wie ein Beweisstück vor meine Nase halte. »Wieso ist das denn offline? Sorry, das ist ein Versehen.« War das glaubwürdig? Eifrig drücke ich Tasten und schalte wieder auf online. Oder darf man Karfreitag auch nicht online sein? Sofort rauscht penetrant piepsend eine FB-Messenger-Benachrichtigung ein. »J. hat dir geschrieben«. Wie bitte, Jan? Aber er war doch von Facebook verschwunden! Ist die alte Nachricht irrtümlich noch einmal eingelaufen?
    Jetzt vibriert das Smartphone zusätzlich und piepst schrill; nach seiner langen Offline-Zeit hat es ein munteres Eigenleben entwickelt und bittet klagend um Aufmerksamkeit. Reihenweise trudeln SMS und Mails ein, während Papas Blick mit jedem neuen Ton vernichtender wird.
    »Ich tu es gleich weg, ich muss nur noch schnell …« Ich kann keine Sekunde länger warten, ich muss schauen, was das für eine Nachricht ist.
    »Denkst du an mich, wenn du dich berührst?«
    Vor Schreck lasse ich das Handy fallen und stürze mich schon im nächsten Moment in einem gewagten Hechtsprung unter den Tisch, damit niemand anderes es aufheben und auf das Display schauen kann. Sobald ich es sicher in der Hand habe, lasse ich den Bildschirm schwarz werden, tauche keuchend unter dem Tisch hervor und setze mich wieder. Mit der Linken halte ich das Smartphone fest umklammert, während ich mir mit der Rechten in einer meiner verfluchten Übersprunghandlungen einen riesigen Bissen Fisch in den Mund schiebe und vor Ekel würgen muss.
    »Warum eigentlich Fisch?«, brabbele ich kauend, bevor mich jemand fragen kann, warum ich mich derart befremdlich aufführe. Noch so eine Nummer und sie schicken mich zum Drogentest. »Ein Fisch ist doch auch ein Lebewesen. Warum darf man an Karfreitag Fisch essen und kein Fleisch? Fisch ist Fleisch. Der einzige Unterschied ist, dass dieses Tier Gräten statt Knochen hat und schwimmt. Aber es hat eine Seele. Die hat es doch, oder, Vater?«
    Jonas hat die Hände vors Gesicht genommen und schnauft hörbar durch – ob lachend oder entsetzt, ich weiß es nicht. Johanna, da gibt es keinen Zweifel, würde sich gerne in einem tiefen Erdloch verstecken vor lauter Fremdscham. Mama und Vater wage ich gar nicht erst anzuschauen.
    »Müssen wir das jeden Karfreitag von Neuem ausdiskutieren, Ronia?« Noch ist Vater ruhig.
    »Ich möchte es nur gerne verstehen. Das ist alles.« Ich spüle den Fischklumpen in meinem Mund mit einem großen Schluck Apfelsaft herunter und mein Bauch bedankt sich sofort mit einem kurzen, heftigen Krampf. »Muss aufs Klo«, füge ich entschuldigend hinzu, als ich aufstehe und den Tisch verlasse. »Bin gleich wieder da.«
    Es ist Fehlalarm – ich dachte es mir schon. Sobald ich im kühlen Gästeklo stehe und die Tür hinter mir abschließen kann, beruhigt sich mein Bauch, doch meine Wangen haben Feuer gefangen und sind so rot geworden, dass winzige Äderchen darin glühen. Meine Augen jedoch blicken mir aufgeweckt und klar aus dem kleinen Spiegel entgegen, in einem reinen, hellen Grün. Keine Schatten, keine Müdigkeit. Seit einer Minute bin ich hellwach.
    Ich klappe den Deckel auf die Brille, lasse mich darauffallen und navigiere mich in den Messenger. Hat er das wirklich geschrieben? Oder war es eine Karfreitags-Halluzination? Oh ja, er hat. Was für eine bodenlose Unverschämtheit. »Denkst du an mich, wenn du dich berührst?« Kein Smiley, es ist kein Scherz, er meint das ernst. Er will wissen, ob …
    »Das geht dich nichts an, du kleines Arschloch«, tippe ich hektisch und verwerfe es gleich wieder. Vielleicht will er mich ja lediglich provozieren. Dann wäre das die falsche Antwort. Sie würde ihn nur ein weiteres Mal darin bestätigen, dass ich ein kleines Mädchen bin. Aber kann ich ihm das durchgehen lassen, ohne ihm die Leviten zu lesen? So etwas fragt man doch nicht, das ist … Ich weiß nicht, was das ist, aber auf jeden Fall weit unter der Gürtellinie. Im wahrsten Sinne des Wortes.
    Trotzdem macht es mich weich. Ich spüre

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