Vor uns die Nacht
trauen.
»Und diese ewige Lauferei? Als wolltest du etwas … etwas loswerden?«, fragt Jonas in geübter Polizistenbeharrlichkeit.
»Ich gehe joggen, um mich fit zu halten! Sonst nichts! Und in einem könnt ihr euch sicher sein – sollte ich schwanger werden, würde ich nie etwas tun, um dieses Kind loszuwerden! Niemals! Habt ihr verstanden?« Ich rufe nicht mehr, ich schreie und in meine Augen sind Tränen der Wut und des Schmerzes getreten. Wie können sie so etwas von mir denken? Wenn es Jans Kind wäre, könnte ich das erst recht nicht tun, ach, niemals könnte ich das. Das müssen sie doch wissen!
»Ronia, Liebling …« Vater hat dieses Kosewort so lange nicht mehr benutzt, dass ich zusammenfahre, doch dann spüre ich, dass er seine Hand auf meinen Arm gelegt hat und mich mit erstaunlicher Sanftheit zurück auf den Stuhl drückt. »Es ist schön, dass du so denkst und fühlst. Wir freuen uns, das zu hören. Wirklich.«
»Okay.« Ich gehorche seiner Hand, setze mich wieder, obwohl in mir immer noch der Drang herrscht, so lange herumzubrüllen, bis ich mir sicher bin, dass ich mir meine eigene geschützte Zone verschafft habe. Hier ist es erstickend eng geworden. Ich habe das Gefühl, keine Luft mehr zu bekommen.
Doch meine kurze Wutrede hat all das Unausgesprochene in diesem Raum zerschmettert. Fragend wandert es in winzigen Splittern von einem zum anderen, noch sind verblassende Zweifel dabei, aber auch der tiefe Wunsch, mir zu glauben. Die Katastrophe, die nie da war, wurde gerade noch abgewendet – so muss es sich für Mama und Vater anfühlen.
Ohne zu verstehen, was sie sagen, höre ich ihnen bei ihren Gesprächen über die Kirchengemeinde, den neuen Chor und Jonas’ Reviererfahrungen zu, ab und zu darf auch Johanna etwas sagen; sogar ich werfe in geeigneten Abständen routiniert ein »Stimmt« und »Ja, sehe ich auch so« ein, um die für einen Karfreitag plötzlich sehr gelöste Stimmung nicht erneut zu gefährden. Die Sache mit meinem Forschungssemester kann ich mir für heute sparen. Das wird nichts mehr.
Meine Eltern haben mir geglaubt, weil sie mir glauben wollen – und keine Ahnung, was sie damit bewirkt haben. Darüber habe ich nämlich noch gar nicht nachgedacht. Schwangerschaft. Verhütung. Babys … Ich nehme die Pille, ja, aber das ist nur die halbe Miete. Auch die Pille kann versagen. Wenn mein Bauch seine Kapriolen weiterhin pflegt, erst recht.
Noch halte ich an dem Vorsatz fest, nicht mit Jan zu schlafen. Aber was, wenn keiner von uns sich beherrschen kann und es so wird wie in meinen Träumen, wo kein Vernunftgedanke unsere tiefe Versunkenheit stört? Ich kann doch mit Jan nicht prophylaktisch ein Gespräch über Verhütung vom Zaun brechen. Aber wenn auch nur ein Bruchteil der Gerüchte über ihn stimmt, muss ich gerade bei ihm höllisch vorsichtig sein.
Also darf ich wirklich nicht mit ihm schlafen. Zu den vielen Tausend Gründen, die dagegensprechen, bin ich mir des schwerwiegendsten Grundes erst jetzt bewusst geworden.
Es wird dabei bleiben, dass ich davon träume, es zu tun. Träumt er denn auch davon? Schickt er deshalb solche Nachrichten?
Den Nachmittag und Abend durchlebe ich wie in einem ungesunden Bann, der meine Seele von meinem Körper getrennt hat. Von ferne schaue ich auf mich, wie ich mich unterhalte, esse und trinke und funktioniere, und bin erst dann bereit, wieder in diese sterbliche Hülle zurückzukehren, als ich in der WG auf meinem Bett liege, alleine und ungestört.
Das Handy ruht neben dem Kissen. Ich hatte es die ganze Zeit bei mir und immer wieder aufs Display geschaut, doch es kam keine weitere Nachricht. Er wollte mich nur auf die Folter spannen. Es ist ja alles ein Spiel. Ich darf das nicht vergessen. Jan spielt mit Frauen.
Mein Herz zieht sich mit jedem Atemzug weiter zusammen, bis es klein und fest in meiner Brust lauert, als habe es Angst. Das hier ist meiner unwürdig. Zu warten, bis er mir endlich die erbetene Antwort gestattet. Ich sollte so etwas nicht tun. Ich darf nicht seine Sklavin werden und auch nicht die meines Facebook-Messengers.
Ich muss gegen einen schier unüberwindbaren Widerstand ankämpfen, um das Handy zu nehmen und offline zu schalten, doch danach dauert es keine drei Minuten, bis die Erschöpfung mich in einen tiefen, haltlosen Schlaf zwingt. Erst als Klappern des Zeitungsbriefkastens mich weckt und die Dächer des Doms golden in der aufgehenden Sonne glühen, schalte ich es im Halbdämmer wieder an. Sofort ertönt der
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