Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Vor uns die Nacht

Vor uns die Nacht

Titel: Vor uns die Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bettina Belitz
Vom Netzwerk:
noch länger durch die warme Luft laufe. Er geht zur Schule. Das ist so menschlich, beinahe schon verletzlich, und damit eine Seite an ihm, mit der ich niemals gerechnet hätte. Er steckt seine hübsche Nase nachmittags in Bücher wie ich, muss Arbeiten schreiben, Hausaufgaben machen. Allein diese Vorstellung zeichnet ein Bild, das meinen Kopf schier explodieren lässt. Weil es mich rührt. Verflucht, es rührt mich … Ohne nachzudenken, schiebe ich die Jeans über meine Hüften, schleudere sie mit den Füßen auf den Kies und haste über die rutschigen, schmerzenden Steine in die nur Zentimeter hohe Brandung hinein, während in der Fahrrinne dröhnend ein schwerer Frachter vorüberzieht.
    Doch nur die Knöchel zu benetzen, reicht mir nicht, es ist nicht genug, ich spüre die Kühle ja kaum. Also gehe ich weiter, stur geradeaus, bis meine Oberschenkel zur Hälfte vom Flusswasser umspült werden, das viel weicher und dennoch mächtiger ist, als ich dachte. Es zieht an mir, will mich mit sich nehmen, ich spüre diesen Sog sogar an meinen Händen, als ich sie ins Wasser tauche und es verwirbele. Spielerisch stemme ich mich gegen die Kraft der Strömung und muss darüber lachen, dass ich ins Taumeln gerate und mich bei meinem Versuch, mit rudernden Armen die Balance zurückzuerobern, selbst nass spritze. Jetzt rollen auch noch die Bugwellen des Frachters auf mich zu – wenn ich nicht baden gehen oder gar mitgerissen werden will, muss ich umkehren. Lachend laufe ich vor ihnen weg, doch der erste Kamm erreicht mich noch, schwappt fast bis hoch zu meinem Slip. Auch das kann meinen Gefühlssturm nicht dämpfen, obwohl meine Waden vom Kampf gegen die Gewalten müde werden und mein Herz warnend pocht.
    »Das ist gefährlich, was du da tust. Weißt du, oder?«
    »Weiß ich. Manchmal mag ich es gefährlich«, schieße ich frech zurück, sobald ich es taumelnd geschafft habe, über den rutschenden Kies zurück ans Ufer zu klettern, wo Jan gähnend und mit müder Miene auf mich wartet.
    »Echt jetzt, der Sog der Frachter ist nicht ohne, da sind schon manche ersoffen oder in die Schiffsschraube geraten, die dachten, sie könnten mal auf die andere Seite schwimmen, um zu zeigen, was für ein toller Hecht sie sind. Idioten.«
    »Glaub mir, ich würde es schaffen.« Ich kann kaum sprechen, weil ich mich nicht zwischen Luftholen und Lachen entscheiden kann. »Du gehst also noch zur Schule?« Für einen Moment pruste ich meine Heiterkeit ungehemmt heraus, dann kehrt das Gefühl der Rührung zurück, intensiver und wärmer als zuvor. Ich bestehe nur noch aus Hitze.
    »Ja. Noch und wieder. Ins Kolleg. Abitur nachmachen. Uncool? Ich find’s cooler, das Abi in der Tasche zu haben, als mich mein ganzes Leben lang kurzhalten zu müssen, weil ich jobmäßig nix auf die Reihe kriege.« Ihn stört mein verzweifelter Spott gar nicht. Seine ganze Haltung strahlt eine Selbstsicherheit und innere Ruhe aus, die es mir leicht macht, das Bild von ihm, wie er lernend über den Büchern brütet und Buchstaben aufs Papier setzt, weit wegzuschicken.
    »Du wirst doch Supermodel. Schon vergessen?«
    Ohne zu antworten, liest er meine Jeans vom Strand auf und geht mir voraus zurück Richtung Auwald. Ich schaffe es kaum, ihm zu folgen – meine Fußsohlen schrammen über den Kies und ich habe Schwierigkeiten, meine Bewegungen zu steuern. In meinem Kopf wummert das Blut.
    Kurz vor dem Weg, der den Strand vom Dickicht trennt, bleibt Jan stehen und dreht sich zu mir um. Sobald er mich ansieht, muss ich lächeln und spüre, wie meine Augen dabei schelmisch funkeln und blitzen. Alles in mir ist ein einziger Widerspruch. Mein Körper streikt, meine Seele feiert ein Freudenfest, mein Kopf arbeitet wütend dagegen an.
    »Ronia, alles klar? Hast du vielleicht einen Sonnenstich? Oje, die hat zu viel Sonne auf den Schädel bekommen«, beantwortet Jan seine Frage selbst und stellt gleich die nächste. »Hast du dich eigentlich mal angesehen? Genau? Und wach? Hast du das?«
    Eigentlich besteht meine wache Freizeit aus fast nichts anderem mehr, als mich anzusehen – kritisch, prüfend, abwägend, manchmal auch wohlwollend oder lobend. Jetzt aber fühle ich mich eher verwirrt, als ich meine Augen über meinen Körper wandern lasse. Gut, ich trage keine Hose, aber mein Slip könnte auch als Bikiniunterteil durchgehen. Meine Beine sind mustergültig rasiert und eingecremt, ich habe weder Dellen noch zu viele Äderchen – eigentlich alles gut.
    »Ich meine dein Gesicht.

Weitere Kostenlose Bücher