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Vor uns die Nacht

Vor uns die Nacht

Titel: Vor uns die Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bettina Belitz
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Zeitlosigkeit und ferner Wachheit ein, bevor ich mit dem nächsten Windhauch über uns wieder klarer werde. »Pst. Warte mal, Jan, nicht bewegen. Merkst du das auch?«
    Wir halten inne, lauschen, doch ich habe mich nicht geirrt. Sanfte, winzige Wellen gleiten durch meinen Körper, ich spüre sie unter Jans Hand, und auch, wie sie sich von dort fortsetzen und wieder ineinander übergehen, sich neu finden. Verzückt schließe ich die Augen, um tiefer in mich hineinfühlen zu können. Diese Wellen verlaufen nicht im Takt mit meinem Puls und Herzschlag – sie sind langsamer, die Abstände zwischen ihnen viel größer. Das ist etwas anderes.
    Jan antwortet nicht, doch ich kann sein Staunen fühlen, als ich meine rechte Hand oberhalb seiner auf meinen Oberschenkel lege und die Wellen nun auch mit meiner eigenen Handinnenfläche wahrnehmen kann. Es ist, als ob sie in Verbindung mit der ganzen Welt stehen, den Tieren und Pflanzen und der Erde um mich herum, ja, als würde mein Blut vom Universum bewegt und geatmet werden. Ich werde geatmet. Es macht mich schläfrig und wach in einem – und ungeheuer mutig.
    Langsam, Zentimeter um Zentimeter, lasse ich meine Hand nach oben gleiten, an den Bund meines Höschens, wo ich sie für ein paar Anstandsminuten ruhen lasse, in denen unser Atem lauter wird. Dann schiebe ich sie darunter. Das Erzittern in Jans Brust und die Regung seines Halses verraten mir, dass ich nichts Falsches tue. Nein, das ist nicht falsch – es ist sogar wunderschön. Meine Lider gleiten hinab, als ich mich zu fühlen beginne, träumerisch, ohne Eile und ohne Ziel. Meine Hüften heben sich sanft an und entspannen sich wieder im Rhythmus mit seinen Hüften und dem der Wellen am Kiesstrand, die ich nicht höre, doch fühle, gleich denen meines eigenen Körpers – sie werden nie sterben, nie vergehen. Sie werden auch dann noch da sein, wenn mein Herz aufgehört haben wird zu schlagen.
    Und deshalb will ich nicht kommen. Ich will es noch nicht erleben, nur herauszögern, so lange wie möglich, ohne Zeit und Raum, bis ich es kaum mehr ertrage, und dann …
    »Ich möchte dich in mir spüren«, flüstere ich, bevor ich meine Hand zurückziehe, Worte wie ein scheues Gebet, das im Abendwind davongetragen wird. Seine Zähne schließen sich fest um meine Halsvene, während er mich dort küsst und gleichzeitig an meiner Haut saugt, ein süßer, willkommener Schmerz, der meine Gedanken zerrüttet, bevor mein Körper sich vergisst, und sobald ich weiß, dass es vorbei ist, bemächtigt sich eine bleierne Müdigkeit meines Kopfes.
    Alles, was ich spüre und höre, ist das Rufen des Himmels, als Jan seine Augen öffnet und hineinsieht, in dieses unendliche, tiefe, ferne Blau.
    Ja, ich sehe es auch, obwohl ich fast schon schlafe. Es ist unser Himmel, unser Universum. Er war immer da, mein ganzes Leben lang.
    »Mein Leben ist zu Ende« ist mein erster Gedanke, als ich erwache, immer noch in Jans Armen, aber nun mit dem Gesicht auf seinem Bauch. Um uns herum ist es dämmrig geworden und die Sonne beinahe untergegangen. Die Uhr zeigt sicherlich schon nach neun, was bedeutet, dass Jonas und Johanna seit Stunden auf mich warten, während ich hier – ja, was haben wir eigentlich getan? Jan hat mich als Hexe verurteilt und ich bekam einen Sonnenstich, der sich gewaschen hatte – und mich zu Handlungen trieb, die mir im Nachhinein die Röte ins Gesicht schießen lassen. Um es neudeutsch zu formulieren: Ich habe mich in seinen Armen befriedigt – nicht inklusive Höhepunkt, aber bis knapp davor. Dass ich gerade so die Kurve gekriegt habe, macht es in meinen Augen nicht weniger verrucht. Alles was er getan hat, war, mich zu halten und bei mir zu sein. Er hat nicht einmal seinen Gürtel geöffnet. Ich bin mir nicht ganz sicher, ob das eine Beleidigung ist oder eine Sensation. Ihn kann ich danach nicht fragen, denn er schläft tief und fest. Das Leben mit Schule, Modeljobs und einer Hexe scheint anstrengend zu sein.
    Doch trotz meiner Verlegenheit Jan gegenüber fühle ich mich nicht imstande, mich nach diesen Erlebnissen und einem gerade erst auskurierten Sonnenstich moralisch integeren Menschen wie Jonas und Johanna zu präsentieren, und Gelegenheit macht bekanntlich Diebe. Es ist noch so hell, dass ich Jan mühelos erkennen kann, seinen leicht geöffneten, nun so arglos und unschuldig wirkenden Mund, erste Zeichen eines blonden Bartschattens am Kinn, seine hellbraunen Brauen und dunkelbraunen Wimpern, die lang und dicht, aber

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