Vor uns die Nacht
Bauch lösen sich. Es ist keine Angst, die mich bewegt, es ist Adrenalin. Mein Körper zeigt mir, dass ich lebe. Das ist etwas Wertvolles.
Eine kühle, sanfte Brise erhebt sich vom Fluss und streichelt über mein fiebriges Gesicht, wie eine vertraute Stimme, die mir zuflüstert weiterzugehen. Es ist das gleiche Gefühl, das aufkommt, wenn man drei Tage lang bei brütender Hitze in der kalten Erde gewühlt und nichts gefunden hat – und plötzlich, aus dem Nichts heraus, ändert sich die Atmosphäre und jeder bekommt einen letzten Schub Kraft und Energie weiterzumachen. Bis eine Stimme »Hier!« ruft und allen klar wird, dass man nicht umsonst geschuftet hat.
Erleichtert lasse ich das Geländer los, an dem ich mich in meinem Schwindel festgehalten habe, und laufe weiter, nun wieder kraftvoller und geschmeidiger. Schon auf der kurzen Schotterpiste hinunter zum Ufer merke ich, dass sich die Gerüche verändert haben. Das fischige Aroma des Wassers lastet schwerer in der Luft als noch im Frühling, vom anderen Ufer zieht der Duft nach gegrilltem Fleisch herüber und die Kieselsteine erzählen von den Wellen, die sie in nie endender Regelmäßigkeit sacht benetzen, dunkel werden lassen und wieder der Sonne freigeben.
Der Auwald ist so dicht und dunkel, wie ich ihn noch nie erlebt habe, doch seine undurchdringliche Fülle lockt mich, anstatt mich von ihm abzuhalten. Er verspricht mir Geborgenheit und Schutz. Sogar die Insekten, die in Schwärmen vor mir hertanzen, und die faulig riechenden, schillernden Regenwassertümpel mit ihren Wasserflöhen und giftgrünen Schlieren sind wie geheime Wegzeichen, denen ich wie in einem Zauberwald folgen muss.
An der Stelle, an der Jan und ich uns das letzte Mal begegnet waren, lagert nur ein Angler und schaut stumpfsinnig auf den Teich. Ohne ihn zu grüßen, bahne ich mir weiter meinen Weg, immer am Fluss entlang, aber gut verborgen im Wald. Nun ist es mir beinahe egal, ob ich Jan finde oder nicht – alleine ihn hier zu suchen, gibt mir das Gefühl, unsterblich zu sein und jenes Leben zu führen, das ich immer führen wollte. Hier zählen die Gesetze der Stadt und die meiner Eltern nicht mehr, denn hier wird mich niemand entdecken und erst recht kann niemand meine Gedanken erahnen oder verurteilen.
Trotzdem entspannen sich meine Gesichtszüge zu einem feinen, wissenden Lächeln, als ich einen schmalen Trampelpfad entlangschleiche und Jan entdecke. Sofort bleibe ich stehen. Ich will ihn nicht erschrecken. Er scheint zu schlafen. Die dicke, weiche Decke, auf der er ruht, hat er über einen am Boden liegenden Baumstamm geworfen, an dem nun sein Oberkörper lehnt. Seine Brust hebt und senkt sich gleichmäßig und seine Augen sind vollkommen geschlossen. Obwohl er sich im Schatten befindet, fangen seine Haare und der silberne Kettenanhänger, den er an einem Lederarmband um seinen Hals trägt, Lichtreflexe ein – es muss das Spiel des Windes über seinem Kopf sein, das die Sonnenstrahlen ab und zu durch das dichte sattgrüne Laub dringen lässt. Ich könnte Stunden hier stehen und ihn ansehen. Leider habe ich so viel Zeit nicht, aber immerhin Muße genug, aus meinen Flip-Flops zu schlüpfen und in aller Ruhe näher zu kommen, was mir so geräuschlos gelingt, als bestünde ich nur noch aus Sonne und Wind.
Neben seiner linken Hand liegen eine halb volle Wasserflasche, ein Päckchen Zigaretten und zwei Bücher – er liest? Neugierig beuge ich mich vor. Was liest jemand wie Jan? Spionageromane, Erotik für Männer oder … oh. Tietze, Walter, Feuerlein, die drei Pappnasen kenne ich. Ihr Opus war nach meinem Empfinden das am meisten gefürchtete Buch der ganzen Oberstufe. Algebra. Nur Geometrie ist schlimmer als Algebra. Der Wälzer daneben ist auch ein alter Bekannter – der Lindner. Drei Jahre Biologie für Abiturienten. Meine Rückschlüsse in Lichtgeschwindigkeit sind ein kleiner Schock. Niemand liest solche Bücher zum Spaß, auch Jan nicht. Er lernt für die Schule. Ach du grüne Neune, er geht noch zur Schule! Das Modeln ist offenbar nur ein Freizeitjob für die schnelle Kohle nebenher.
Ich bin so überrascht, dass ich barfuß kehrtmache und quer durch das Dickicht stapfe, obwohl mir Äste ins Gesicht schlagen und meine Füße immer wieder im Schlamm versinken. Ich muss für einen Moment hier raus, an die freie, frische Luft zum Fluss – nein, nicht zum Fluss, sondern in den Fluss hinein. Denn mir ist so heiß geworden, dass ich das Gefühl habe, mein Blut verklumpt, wenn ich
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