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Vor uns die Nacht

Vor uns die Nacht

Titel: Vor uns die Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bettina Belitz
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mich an die Mauer in meinem Rücken und warte, bis es ein wenig dämmriger geworden ist. Die Sonne soll nur noch eine Erinnerung sein, wenn ich ihn sehe, ich möchte, dass die Kerzen leuchten. Sie werden es mir leichter machen. Nun schlägt die Uhr des Domes zur vollen Stunde – neunmal hell, neunmal etwas tiefer. Er muss da sein. Es ist Sonntagabend, er geht noch zur Schule, vielleicht lernt er sogar. Er wird sich nicht in irgendwelchen dunklen Gassen rumtreiben.
    Als ich auf den Klingelknopf drücke, wird mir so schwindelig, dass ich schon den Boden auf mich zurasen sehe. Doch dann fange ich mich wieder, muss aber unwillkürlich schlucken. Mir ist übel. Es wird jedes Mal schlimmer. Meine Nerven werden nicht stabiler, sondern dünner. Sollte es nicht wie beim Joggen sein, dass die Kondition wächst und der Trainingsreiz mich sicherer und stabiler werden lässt?
    Endlich summt der Öffner und ich lasse die Tür etwas zu heftig ins Schloss fallen. Das ist weder verführerisch noch ladylike, auch nicht, wie ich in zwei sportlichen Sprüngen die Stufen nehme, um meines Adrenalins Herr zu werden.
    »Hi.« Bis hierhin hatte ich geplant – und jetzt? Jetzt steht er vor mir, schaut mich fragend an und ich hab keine Ahnung, was ich sagen soll.
    »Ich dachte, du hast nur freitags Ausgang.«
    »Bin ausgebrochen«, erwidere ich flapsig. Ich sehe es ein: Es war verkehrt, ich hätte es nicht tun sollen, ich habe ihn überrumpelt, das ist aufdringlich und …
    »Magst du Pernod? Ich hab mir grad einen gemacht. Auf Eis.«
    »Pernod«, äffe ich ihn verständnislos nach.
    »Gut, du kriegst eine Fanta mit Strohhalm. Aber wenn’s geht, im Wohnzimmer und nicht im Hausflur.«
    Ich spare mir eine Antwort und folge ihm auf kribbelnden Füßen in den Flur, wo sich Ganesha funkelnd verrenkt und ich auf der anderen Seite mit Jans nacktem Oberkörper konfrontiert werde. Heute wollte ich ihn in natura betrachten, doch im Moment kommt mir das abgehoben und abstrakt vor. Das hier ist eine ganz normale Situation, wir sind beide vollständig bekleidet und er bietet mir einen Drink an. Es wird niemals etwas passieren.
    »Cheers.« Klackend stoßen unsere Gläser aneinander, als ich drei Minuten später neben ihm auf seinem Sofa Platz nehme. Ich bin wie paralysiert, ich weiß nicht, was ich in der Zwischenzeit getan habe. Vermutlich nur dumm aus der Wäsche geguckt. Anders als angedroht, hat er mir ebenfalls einen Pernod eingegossen, der sich durch das Eis milchig grün verfärbt und nach Anis riecht. Sein scharfer Geschmack holt mich in jene Geistesgegenwart zurück, die ich dringend brauche.
    »Jan, es tut mir leid, dass ich einfach so …« Doch er hat mir schon das Glas aus der Hand genommen und sich mir so weit genähert, dass ich seinen Atem hinter meinem rechten Ohr spüre. »Gut. Dann besser nicht reden«, wispere ich, als wir unsere Wangen aneinanderlegen und still verharren, um mit der plötzlichen Nähe zurechtzukommen – das totale Gegenteil der vergangenen zehn Tage, in denen die einzigen Berührungen die meiner eigenen Hände waren.
    Jetzt erst bemerke ich die Musik, zum ersten Mal läuft Musik, während wir uns begegnen, und sie ist meinen Youtube-Fundstücken verblüffend ähnlich: schwüler Chillout, allerdings mit einer orientalischen Färbung, die mich genauso benebelt wie der Pernod und das Gefühl von Jans Wange auf meiner. Es dauert zwei weitere hypnotische Songs, nervenzerreißend lange und doch zu schnell, bis unsere Lippen sich endlich finden und streifen, als küssten wir uns zum ersten Mal. Wird das immer so sein? Oh Gott, ich möchte das, ich will, dass es so bleibt, für immer und ewig. Nie wieder einen anderen Mund, nie wieder andere Hände, einen anderen Duft. Das hier, in diesem Moment, ist alles, was ich je wollte. Ich muss seufzen, als er mich sanft beißt und an meinen Lippen saugt, nie habe ich Schmerz mehr genossen und für sinnvoller befunden, und ich weiß auch, warum er es tut – nicht um mir wehzutun, sondern um mich stöhnen zu hören, jene zärtliche Qual, die auch ich ihn gerne spüren lassen möchte. Er hat sich nach mir gesehnt. Kein Zweifel mehr. Er kann sich kaum zurückhalten.
    Seine Hand gleitet über meine Lenden und von dort unter den Bund meiner Jeans, während er sich langsam rücklings auf das Sofa sinken lässt.
    »Komm zu mir«, bittet er mich mit halb geschlossenen Augen und zieht mich so nah an sich heran, dass ich nichts anderes tun kann, als meinen Kopf auf seine Brust zu betten

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