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Vor uns die Nacht

Vor uns die Nacht

Titel: Vor uns die Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bettina Belitz
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Gelegenheiten für ihn gewesen – Ronia am Boden zerstört.
    Ich kann ihm nichts vorwerfen. Er war da, als ich kurz vorm Zusammenbruch war, wie ein zuverlässiger Freund es tut, er hat mit mir geredet, mir angeboten, für mich Miete zu zahlen, und mir sein Handy überlassen – und doch blieb er fern. Auch das ist neu. Hat er mich etwa aufgegeben? Bin ich für ihn weniger wert, weil ich mich mit Jan abgebe? Ist es das?
    Plötzlich fühle ich mich panisch und diese neue, andere Angst mindert sich auch dann nicht, als ich geduscht auf meinem Bett liege und an die Decke schaue, das Handy draußen im Flur in der Ladestation. Auch der Laptop schweigt. Ich bin nicht wieder online gegangen, ich muss mich schützen. Noch einen Ausraster kann ich mir nicht leisten, ein weiteres Ersatzhandy wird Jonas nicht in petto haben. Noch nie in meinem Leben habe ich Dinge durch die Gegend geschmissen. Oder auf einen Boxsack eingedroschen. Es stimmt, ich bin anders. Aber es ist nicht nur Schmerz und Verzweiflung und Sehnsucht, was mich um meinen Verstand bringt und jene Gesetze auf den Kopf stellt, die bisher ewige Gültigkeit hatten. Es ist etwas Echtes, Wahres darin, das ich leben muss, weil ich sonst nie mehr glücklich werde. Ich muss diesen Weg gehen. Zu diesem Weg gibt es keine Alternative – selbst wenn er mich umbringt, sodass ich irgendwann nur noch existiere, aber nie mehr liebe und lebe.
    Je dunkler es in meinem kleinen Zimmer wird und je tiefer die Ecken in den Schatten der Nacht getaucht werden, desto deutlicher wird mir bewusst, was Jonas’ Rückzug bedeutet. Da war ein heimlicher Ausweichplan in mir gewesen, die ganze Zeit, seitdem ich Jan das erste Mal getroffen hatte. Dieser feige, aber notwendige Plan besagte: Wenn ich todunglücklich werde und Jan sich als fataler Fehler erweist, dann ist das der Wink des Schicksals, dass Jonas der Richtige für mich ist. Dann beuge ich mich diesem höheren Willen, krieche geläutert zu ihm auf den Schoß und ergebe mich, in dem beruhigenden Wissen, dass er gut zu mir sein und mich niemals so verletzen wird wie all die anderen. Dann ist er meine ganz persönliche Gnade.
    Aber ich hatte nie über die Möglichkeit nachgedacht, dass er mich gar nicht mehr will.
    Jetzt gibt es keine Ausweichmöglichkeit mehr. Ich habe meine Eltern vergrätzt, es mir mit meiner besten Freundin verdorben und Jonas entliebt. Nun stehe ich alleine in der Wüste.
    Da sind nur noch der ferne Fluss, Jan und ein Schicksal, von dem ich nicht weiß, ob es mich belohnen oder strafen will.
    Ich bin vollkommen ausgeliefert.

Leuchtkörper
    Z um letzten Mal überprüfe ich mein Spiegelbild. Hexe, sagte Jan. Ich habe das Gesicht einer Hexe. Nun, zumindest empfinde ich diese Hexe als ansehnlich, was in Anbetracht des durchheulten gestrigen Tages eine kleine Sensation ist. Erst Jans kurze Messenger-Nachricht gegen Mitternacht spendete mir inmitten meiner Trostlosigkeit ein zartes, kleines Flämmchen der Hoffnung und in ihrem Licht sah ich nach und nach ein, dass ich restlos überzogen reagiert hatte. Ein Fußballspiel in Konkurrenz zu mir zu stellen, war lachhaft, und wie man es nennen sollte, deshalb ein Handy zu zertrümmern, will ich mir gar nicht erst überlegen.
    Doch in den Stunden zuvor zwirbelten meine Zweifel ihre Spirale in bislang ungeahnte Höhen, schnürten meinen Bauch zu und ließen das Atmen zu einer schmerzhaften Prozedur verkommen. Als ich mich gerade dem Gedanken hingeben wollte, Jan einen Brief zu schreiben und auszusprechen, was ich seit Stunden dachte – »Ich kann nicht mehr« –, piepste Jonas’ Handy und eine E-Mail benachrichtigte mich, dass Jan mir auf Facebook geschrieben hat.
    »Träum süß, Baby. Muss ständig an deine Füße denken.«
    So schwer die Traurigkeit auch in meinem Blut geflossen war und so ausgeliefert ich mich gefühlt hatte – in diesem Moment hatte ich einen Hauch Trost und Sicherheit verspürt, der es mir leichter gemacht hatte einzuschlafen. Und am nächsten Morgen war mir alles wie ein böser Traum vorgekommen und übertrieben dazu. Ich hatte neue Kraft gewonnen.
    »Merk es dir endlich, Ronia«, flüsterte ich mir dankbar zu. »Du musst nicht zweifeln. Es gibt keinen Grund.«
    Es gibt keinen Grund – deshalb kann ich meinen Überraschungsangriff wagen und mein Spiegelbild bietet mir kein Gegenargument. Die Hexe sieht gut aus. Meine Augen leuchten in ihrem irritierend hellen Graugrün, das Jan mag und andere puppenhaft finden, meine Haut ist klar und samtig, meine

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