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Vor uns die Nacht

Vor uns die Nacht

Titel: Vor uns die Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bettina Belitz
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Lippen schimmern. Ich habe kaum Make-up verwendet, ich brauche es nicht. Selbst meine Haare scheinen sich weicher zu locken als sonst. Sie sehen nicht aus wie feiner Draht, sondern wie etwas, das man gerne berühren und mit den Lippen streifen möchte. Ich schaue trotzig und erwartungsvoll – wenn einer damit umgehen kann, dann Jan. Zweifel sind nicht nötig. Sie waren es niemals.
    Ich habe die Zügel wieder in der Hand. Sie sind mir kurz entglitten, das kann jedem passieren, nicht mal der stärkste Mensch ist davor gefeit. Aber jetzt weiß ich, was ich zu tun habe: nämlich aus dem Trott auszubrechen, den ich mir selbst geschaffen hatte. Natürlich wird diese Geschichte zum Nerventerror, wenn ich immer nur den Freitag als Jan-Tag betrachte. Ich habe mir damit einen viel zu kleinen, engen Kreis gezogen. Wir sind über dieses Stadium hinaus. Heute ist Sonntag und heute werde ich zu ihm gehen. Ja, an einem Sonntagabend.
    Mir entgeht nicht, wie mein Spiegelbild unbehaglich die Schultern hochzieht. Sonntag war immer unser Pfarrhaustag – ein Tag voller Würde, Sittsamkeit und Demut. Und jetzt ziehe ich sonntags los, um Sex zu haben, anstatt mit meinen Eltern zu Mittag zu essen, Belanglosigkeiten auszutauschen und anschließend die Kirche neu zu schmücken.
    Mich selbst habe ich kaum geschmückt, aber einer zweistündigen Körperpflegesession unterzogen, ohne Türklopfarien und Kontrollfragen von Jonas, der bereits heute Mittag zum Baggersee aufbrach. »Mit Freunden«, wie er lapidar sagte. Ich tat ihm nicht den Gefallen nachzufragen, wer diese Freunde sind, denn ich war froh, die Wohnung für mich zu haben und ungestört meine Neurosen kultivieren zu können. Schon ab dem frühen Nachmittag konnte ich nichts mehr essen, nur noch trinken, und das tat ich reichlich, denn es ist heiß geworden. Wir haben bereits Juni. Anfang August stehen meine Prüfungen an. Ich bin knapp dran mit den Vorbereitungen, doch heute möchte ich darüber nicht nachsinnen. Heute gibt es nur zwei Menschen auf dieser Erde – Jan und mich.
    Der Ort unserer Begegnung wird seine Wohnung sein, nicht der Fluss, obwohl mir der Gedanke nicht gefällt, genauso wie der Sonntagsgedanke. Aber ich möchte Frau Kehrlein und dem Pudel keinen neuen Anlass zum Voyeurismus liefern. Überhaupt möchte ich keinen Freiluftsex haben. Ich brauche die geschützte Atmosphäre eines Dachs über dem Kopf und blickdichte Wände. Kerzenlicht, kleine indische Gottheiten und ein dunkelrotes Designersofa. Trotzdem breche ich damit gleich zweifach die Regeln. Ich missachte unseren Tag und unseren Ort. Leider bin ich zu abergläubisch, um das ignorieren zu können. Aber auch das gehört dazu – es anders zu machen als sonst. Als ich am Tag meiner Einschulung versehentlich den Regenschirm im Hausflur aufspannte und anschließend in Tränen ausbrach, nahm mein Leben auch kein jähes Ende. Ich bekam lediglich eine strenge Zurechtweisung von Vater, der jegliche Form von Aberglauben verabscheut. Also tue ich sogar etwas, was in seinem Sinne ist, wenn ich Zeit und Ort ignoriere und trotzdem an ein wohlmeinendes Schicksal glaube.
    Jan war gerade eben noch online, die Chancen sind hoch, dass er zu Hause ist. Ich schlüpfe in meine blauen Flip-Flops, die mit bunten Steinen verziert sind, ein Hauch Strandleben, aber trotzdem edel. Dazu trage ich eine verwaschene, gut sitzende Jeans und ein kurzärmeliges, dunkelblaues Hemdchen mit winzigen Knöpfen im Ausschnitt. Am Schmuck habe ich gespart, es klingelt nur leise ein silbernes Kettchen an meinem rechten Handgelenk. Ansonsten bin ich pur. Ich möchte, dass nichts zwischen uns ist.
    Ob meine Eltern jemals sonntags Sex hatten? Haben sie überhaupt noch Sex? Mein Zimmer im Pfarrhaus ist nur durch eine dünne Wand von ihrem getrennt und nie hatte ich in all den Jahren verdächtige Geräusche wahrgenommen. Einmal müssen sie jedoch miteinander geschlafen haben – nämlich um mich zu zeugen, und das kann niemals an einem Sonntag gewesen sein. Ich kam mir schon immer vor wie eine Montagsproduktion – von der Idee her gut, aber mit Mängeln behaftet.
    Auf dem Weg zu Jan muss ich mich durch Touristenströme drängeln, die hinunter zum Fluss ziehen, und fühle meinen Magen flatternd aufbegehren, als ich mich der Fischergasse nähere. Ich habe mir nicht überlegt, wie ich damit umgehe, falls er nicht da ist oder mich abweist. Wenn ich das getan hätte, hätte mich sämtlicher Mut verlassen. Ein paar Meter vor seinem Haus bleibe ich stehen, lehne

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