Vor Vampiren wird gewarnt
nachdenken sollte: darüber, dass ich Claude nackt gesehen hatte, dass Claude mich nackt gesehen hatte oder gleich darüber, dass wir miteinander verwandt waren und nackt im selben Raum gestanden hatten.
»Sookie? Sie klingen so komisch«, sagte eine mir entfernt bekannt vorkommende männliche Stimme.
»Oh, ich war nur gerade etwas überrascht«, erwiderte ich. »Tut mir leid ... Wer ist denn da?«
Er lachte, und es klang herzlich und freundlich. »Hier ist Remy Savoy, der Vater von Hunter.«
Remy war mit meiner vor einiger Zeit verstorbenen Cousine Hadley verheiratet gewesen. Und ihren Sohn Hunter und mich verband eine Gemeinsamkeit, die wir uns mal genauer ansehen mussten. Ich hatte Remy anrufen wollen, um mich mit Hunter mal zum Spielen zu treffen, und machte mir jetzt Vorwürfe, dass ich es solange aufgeschoben hatte. »Ich hoffe, Sie rufen an, um mir zu sagen, dass ich Hunter an diesem Wochenende sehen kann?«, sagte ich. »Ich muss zwar ab Sonntagnachmittag wieder arbeiten, aber Samstag habe ich frei. Also morgen.«
»Das ist ja toll! Ich wollte fragen, ob ich ihn heute Abend vorbeibringen und er eventuell über Nacht bleiben könnte.«
Das war ganz schön lange, wenn man bedenkt, dass ich den Kleinen kaum kannte, oder wichtiger noch, dass der Kleine mich kaum kannte. »Haben Sie irgendetwas Besonderes vor, Remy?«
»Ja. Die Schwester meines Vaters ist gestern gestorben, sie haben die Beerdigung auf morgen Vormittag um zehn angesetzt. Aber die Aufbahrung ist schon heute Abend. Und ich will Hunter nicht zu einer Aufbahrung und Beerdigung mitnehmen... vor allem nicht, nun, Sie wissen schon, bei seinem ... Problem. Das könnte ganz schön schwierig werden für ihn. Sie wissen ja, wie's ist... Ich kann nie sicher sein, was er sagen wird.«
»Verstehe.« Und das tat ich wirklich. Es kann ziemlich anstrengend sein, ein gedankenlesendes Vorschulkind um sich zu haben. Meine Eltern hätten Remys Notlage nur zu gut verstanden. »Wie alt ist Hunter inzwischen?«
»Fünf, er hatte gerade Geburtstag. Ich hatte mir eine Menge Sorgen gemacht wegen der Feier, aber das haben wir ganz gut überstanden.«
Ich holte einmal tief Luft. Schließlich hatte ich Remy versprochen, dass ich bei Hunters Schwierigkeiten helfen würde. »Okay, er kann bei mir übernachten.«
»Danke. Vielen, vielen Dank. Ich bringe ihn heute Abend nach der Arbeit vorbei. Ist das okay? Dann sind wir so ungefähr um halb sechs bei Ihnen.«
Ich würde zwischen fünf und sechs aus der Arbeit kommen, je nachdem, wie pünktlich meine Ablösung auftauchte und wie voll meine Tische waren. Ich gab Remy meine Handynummer. »Wenn ich noch nicht zu Hause bin, rufen Sie mich auf dem Handy an. Ich werde versuchen, so schnell wie möglich hier zu sein. Was isst er denn gerne?«
Ein paar Minuten unterhielten wir uns noch über Hunters Gewohnheiten, dann legte ich auf. Mittlerweile war mein Körper trocken, nur mein Haar hing mir noch in feuchten Strähnen vom Kopf. Nach kurzem Föhnen war auch das erledigt, und ich machte mich auf den Weg, um mit Claude zu reden, natürlich erst, nachdem ich sicher in meiner Arbeitskleidung steckte.
»Claude!«, rief ich am Fuß der Treppe.
»Ja?« Er klang völlig gelassen.
»Komm mal herunter!«
Er erschien am oberen Treppenabsatz, mit einer Haarbürste in der Hand. »Ja, Cousine?«
»Claude, der Anrufbeantworter springt an, wenn ich nicht ans Telefon gehe. Komm bitte nicht einfach in mein Zimmer, ohne vorher anzuklopfen, und vor allem nicht in mein Badezimmer!« Von jetzt an würde ich auf jeden Fall abschließen. Ich glaube, das hatte ich überhaupt noch nie getan.
»Bist du prüde?« Er schien die Frage ernst zu meinen.
»Nein!« Doch nach einem Augenblick fügte ich hinzu: »Im Vergleich zu dir vielleicht schon! Mir ist Privatsphäre wichtig. Ich entscheide selbst, wer mich nackt zu sehen bekommt. Das ist der springende Punkt, wenn du verstehst, was ich meine.«
»Ja. Objektiv betrachtet hast du wunderschöne springende Punkte.«
Ich dachte, mir sprengt es gleich die Schädeldecke. »Mit so was habe ich nicht gerechnet, als ich sagte, du könntest hier wohnen. Du stehst doch auf Männer.«
»Oh, ja. Ich bevorzuge eindeutig Männer. Aber ich erkenne Schönheit, wenn ich sie sehe. Und ich war auch schon mal am anderen Ufer.«
»Wenn ich das vorher gewusst hätte, hätte ich dich hier wahrscheinlich nicht einziehen lassen.«
Claude zuckte die Achseln, als wollte er sagen: »War's dann nicht klug von mir, es dir
Weitere Kostenlose Bücher