Vorhang auf für eine Leiche
stapelte es neben der Tür auf.
»Lassen Sie es einfach da stehen, Anthony«, sagte sie. »Darum kümmert sich später jemand.«
»Sehr wohl, Miss Wyvern«, antwortete er und nahm mit viel Gehampel Haltung an. Beinahe hätte er die Hacken zusammengeschlagen.
Er kam mir irgendwie bekannt vor, aber ich kam ums Verrecken nicht drauf, woher.
Er ging aber nicht, sondern blieb reglos stehen, als wartete er auf ein Trinkgeld – oder wollte er eher auf ein Glas und eine Zigarre hereingebeten werden?
»Sie können gehen«, sagte Miss Wyvern daraufhin knapp, und damit war der Bann gebrochen. Im nächsten Augenblick war der Chauffeur nur noch ein unbedeutendes Mitglied der Tänzerschar in Der Praliné-Soldat.
»Sehr wohl, Miss Wyvern«, sagte er, doch als er sich zur Tür umwandte, sah ich sein Gesicht. Sein Blick war irgendwie … verächtlich?
3
D as hier hat mehr Sonne, Miss«, sagte Dogger. »Wenn es Ihnen recht ist, bringen wir Sie hier unter, bis Ihr eigentliches Zimmer fertig ist.«
Wir hatten uns alle möglichen Räume angeschaut und waren schließlich in Feelys Zimmer angekommen.
Da wir zu dieser Jahreszeit ohnehin kaum Sonne hatten, dachte Dogger vermutlich an frühere Tage.
»Natürlich ist mir das recht.« Phyllis Wyvern trat ans Fenster. »Ausblick auf einen kleinen See – passt … Eine romantische Ruine – passt … Dort unten sehe ich an der Ecke noch den Garderobewagen … Was könnte sich eine Dame mehr wünschen?«
»Soll ich Ihre Koffer auspacken?«, fragte Dogger.
»Nein, danke. Darum kümmert sich Bun. Sie muss gleich hier sein.«
»Es würde mir nichts ausmachen«, sagte Dogger.
»Das ist sehr freundlich von Ihnen, Dogger, aber Bun ist da sehr eigen. Sie würde schimpfen wie ein Rohrspatz, wenn sie herausbekäme, dass sich jemand anders an meinen Sachen zu schaffen gemacht hat.«
»Verstehe«, sagte Dogger. »Haben Sie sonst noch einen Wunsch? Soll ich Mrs Mullet bitten, Ihnen eine Kanne Tee hochzubringen?«
»Sie sind wirklich unbezahlbar. Das wäre herrlich. Ich ziehe mir rasch etwas Bequemeres an und klemme mich dann hinter Vals schauderhaftes Drehbuch. Das Leben ist nämlich keinen Pfifferling mehr wert, wenn das Licht erst einmal eingerichtet ist und man seinen Text nicht auswendig kann.«
»Vielen Dank, Miss.« Dogger verschwand.
»Komischer alter Kauz«, sagte sie. »Er ist bestimmt schon seit Ewigkeiten bei euch?«
»Vater und Dogger waren zusammen im Krieg«, sagte ich widerstrebend.
»Ach so, Kriegskameraden. So was trifft man ja heute überall an. Einer für den anderen. Erst rettest du mir das Leben und dann ich dir. Vielleicht hast du mich in Grabenkrieg im Wohnzimmer gesehen? Ziemlich ähnliche Thematik.«
Ich schüttelte den Kopf.
Da flog die Tür auf, und Feely kam hereingestürzt.
»Was zum Teufel hast du hier drin zu suchen?«, rief sie. »Ich habe dir schon tausendmal erklärt, was dir blüht, wenn ich dich noch einmal in meinem Zimmer erwische!«
Sie hatte Phyllis Wyvern am Fenster überhaupt nicht wahrgenommen.
Jetzt wollte sie mich am Arm packen.
»Nicht!«
Feely fuhr erschrocken herum. Ihre erhobene Hand sank kraftlos herab und hing wie gelähmt herunter.
Einen Augenblick standen die beiden einfach nur da und starrten einander an. Feely machte ein Gesicht, als wäre ihr ein Gespenst begegnet, und Phyllis Wyvern sah drein wie in der letzten Szene von Das gläserne Herz, in der sie sich verzweifelt an der vom Regen umtosten Kirchturmspitze festklammert.
Dann fing Feelys Unterlippe zu zittern an, und Tränen schossen ihr in die Augen.
Sie drehte sich um und rannte davon.
»Aha«, sagte Phyllis Wyvern nach einer langen Pause, »du hast also auch eine große Schwester.«
»Das war Feely«, antwortete ich. »Sie ...«
»Du musst mir nichts erklären. Große Schwestern sind auf der ganzen Welt gleich: Die halbe Tasse ist voller Liebe und die andere Hälfte voller Verachtung.«
Ich hätte es nicht besser ausdrücken können!
»Meine Schwester ist genauso«, sagte sie. »Sechs Jahre Unterschied?«
Ich nickte.
»Meine auch. Wie ich sehe, haben wir noch weit mehr gemeinsam als unsere Vorliebe für grausige Mordfälle, Flavia de Luce.«
Sie kam auf mich zu, legte mir den Zeigefinger unters Kinn und hob mein Gesicht an, bis wir uns in die Augen schauten. Dann umarmte sie mich.
Sie nahm mich tatsächlich in den Arm, und ich sog wieder ihren Jasminduft ein – ob er nun künstlich war oder nicht.
»Komm, wir gehen runter in die Küche und holen
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