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Vorhang auf für eine Leiche

Vorhang auf für eine Leiche

Titel: Vorhang auf für eine Leiche Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alan Bradley
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unsere Mutter, Harriet.
    Harriet hatte das Bild kurz vor dem Aufbruch zu ihrer, wie sich herausstellen sollte, letzten Reise heimlich in Auftrag gegeben, als Geschenk für meinen Vater. Es hatte zehn Jahre halb vergessen im Atelier einer Malerin in Malden Fenwick gestanden, bis ich es dort entdeckt und nach Hause gebracht hatte.
    Eigentlich hatte ich vorgehabt, das Porträt im Salon aufzuhängen und es dort vor den erstaunten Blicken meines Vaters und meiner Schwestern zu enthüllen. Aber mein Plan wurde vereitelt. Vater erwischte mich, als ich das nicht eben kleine Gemälde ins Haus schmuggeln wollte, nahm es mir weg und brachte es in sein Büro.
    Am folgenden Morgen hing es in meinem Labor.
    Warum nur? War es für Vater zu schmerzlich, seine nicht mehr vollständige Familie anzuschauen?
    Es bestand kein Zweifel daran, dass er Harriet geliebt hatte und noch immer liebte, aber manchmal schien es fast so, als wären meine Schwestern und ich für ihn nicht mehr als eine ständige Erinnerung daran, was er verloren hatte. Daffy hatte einmal gesagt, in Vaters Augen seien wir eine dreiköpfige Hydra, deren Gesichter eines wie das andere ein verschwommenes Spiegelbild seiner Vergangenheit boten.
    Auch wenn Daffy eine ausgemachte Romantikerin war, wusste ich genau, was sie meinte: Wir waren flüchtige Abbilder unserer Mutter Harriet.
    Vielleicht verbrachte Vater deshalb seine Tage und Nächte mit seinen Briefmarken, umgeben von unzähligen freundlichen, tröstlichen Gesichtern, die keine Fragen stellten und ihn nicht wie die Gesichter seiner Töchter von früh bis spät verhöhnten.
    Ich hatte schon oft darüber nachgedacht, bis mir das Gehirn rauchte, aber ich kam einfach nicht drauf, warum mich meine Schwestern so sehr hassten.
    War Buckshaw vielleicht eine erbarmungslose Lehranstalt, in die mich das Schicksal gesperrt hatte, damit ich hier die Gesetze des Überlebens lernte? Oder war mein Leben ein Spiel, dessen Regeln ich erst noch erraten musste?
    Sollte ich selbst herausfinden, auf welche geheime Weise meine Schwestern mich liebten?
    Mir fiel beim besten Willen kein anderer Grund für die Grausamkeit meiner Schwestern ein.
    Was hatte ich ihnen denn getan?
    Na schön, ich hatte sie vergiftet, aber nur ein bisschen – und auch nur aus Rache. Ich hatte nie, oder so gut wie nie, einen Streit angefangen. Ich war immer das unschuldige ...
    »Nein! Pass auf! Pass auf!«
    Von draußen drang ein Schrei zu mir herauf, ein rauer Schmerzensschrei, der jäh verstummte. Ich rannte zum Fenster.
    Mehrere Arbeiter standen um eine Gestalt herum, die von einer hochkant stehenden Kiste gegen die Seitenwand eines Lasters gedrückt wurde.
    An dem roten Tuch um den Hals des Mannes erkannte ich, dass es sich um Patrick McNulty handelte.
    Wie der Blitz sauste ich die Treppe hinunter, durch die leere Küche und hinaus auf die Terrasse, ohne mir auch nur einen Mantel übergeworfen zu haben.
    Hier wurde Hilfe gebraucht. Keiner von den Filmleuten wusste, an wen er sich wenden sollte.
    »Bleib weg da!«, sagte einer der Fahrer und packte mich an der Schulter. »Da ist ein Unfall passiert.«
    Ich riss mich los und drängte mich weiter nach vorn.
    McNulty war übel zugerichtet. Sein Gesicht war graugelb wie feuchter Teig. Er richtete die tränenden Augen auf mich und bewegte die Lippen.
    Ich glaube, er flüsterte: »Hilf mir.«
    Ich steckte zwei Finger in den Mund und stieß einen gellenden Pfiff aus. Den Trick hatte ich Feely abgeschaut.
    »Dogger!«, rief ich und pfiff noch einmal. Ich pfiff aus Leibeskräften und hoffte inständig, dass Dogger in Hörweite war.
    Ohne den Blick von mir zu wenden, stieß McNulty ein grässliches Röcheln aus.
    Zwei Männer zerrten an der schweren Kiste.
    »Nicht bewegen!«, sagte ich, lauter als beabsichtigt. »Nicht bewegen!«
    Das hatte ich mal im Radio gehört – oder hatte ich es irgendwo gelesen? –, und zwar war es um ein Unfallopfer gegangen, das verblutet war, nachdem ein Eisenbahnkran zu früh von seinen zertrümmerten Beinen wegbewegt worden war.
    Zu meiner Verwunderung nickte der größere der beiden Männer.
    »Hör auf«, sagte er. »Die Kleine hat recht.«
    Da schob sich Dogger auch schon durch die Menge.
    Die Männer machten ihm wortlos Platz.
    Dogger strahlte etwas aus, das keine Widerrede duldete. Diese Ausstrahlung war zwar nur selten zu spüren, aber in diesem Augenblick war sie überwältigend stark.
    »Nehmen Sie meine Hand«, sagte er zu McNulty und streckte seine Hand zwischen den Laster

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