Vorhang auf für eine Leiche
jemandem, der ein Kriegsgefangenenlager überlebt hatte, sammelte sich wohl mit der Zeit ganz automatisch ein gewisses Maß an praktischem Wissen an.
Aber es musste noch mehr dahinterstecken. Ich erkannte mit plötzlichem Erschauern, dass ich es instinktiv schon die ganze Zeit gewusst hatte.
»Du hast so was schon mal gemacht«, hatte ich zu ihm gesagt, als wir uns über Phyllis Wyverns Leiche gebeugt hatten.
»Schon oft«, hatte Dogger erwidert.
Meine Gedanken purzelten wild durcheinander. Es gab so vieles, worüber ich noch genauer nachdenken musste.
Zum Beispiel über Tante Felicity. Was sie über ihren Dienst während des Krieges erzählt hatte, so wenig es auch gewesen war, ließ mich an Onkel Tars Briefwechsel mit Winston Churchill denken. Der Großteil dieses Schatzes ruhte immer noch ungelesen in einer Schreibtischschublade in meinem Labor. Natürlich war das alles viel zu lange her, als dass es mit Phyllis Wyvern im Zusammenhang stehen konnte. Onkel Tar war schon über zwanzig Jahre tot, aber ich hatte nicht vergessen, dass Tante Felicity und Harriet etliche unbeschwerte Sommer mit ihm auf Buckshaw verbracht hatten.
Jedenfalls war es allemal einen näheren Blick wert.
Dann die Sache mit dem Weihnachtsmann. War es ihm, trotz des Menschenauflaufs im Haus, gelungen, ungesehen ins Haus zu kommen? Hatte er mir die Glaskolben und die Reagenzgläser gebracht, die ich mir gewünscht hatte – all die herrlichen Trichter und Behälter, die Bechergläser und Pipetten, sorgfältig in Stroh eingepackt und aneinandergeschmiegt, sodass eine kristallene Wange beinahe die andere berührte? Lagen diese Schätze vielleicht schon oben in meinem Labor, funkelten im Winterlicht und warteten nur darauf, dass meine Hand sie zu brodelndem Leben erweckte?
Oder war der alte Knabe letztlich doch nur die Gestalt eines Ammenmärchens, wie Daffy und Feely so herzlos behaupteten?
Hoffentlich nicht.
Mir kam in den Sinn, dass es dafür einen Beweis gab, der mit dem Buchstaben P anfing, und es handelte sich dabei nicht um Pottasche.
Lautes Lachen aus dem Nebenzimmer riss mich aus meinen Gedanken, und kurz darauf kamen Feely und Daffy herein, die Arme voller bunter Päckchen.
»Vater hat gesagt, wir dürfen reinkommen!«, rief Daffy. »Du bist ja zu Weihnachten ausgefallen, und wir sind schon so gespannt darauf, was Tante Felicity dir diesmal geschenkt hat.«
Sie ließ ein Päckchen auf meine Beine fallen, dessen Verpackung verdächtig nach Ostern aussah.
»Mach schon auf!«
Meine geschwächten Finger zupften an dem Bändchen und rissen das Papier an einer Ecke auf.
»Gib her!«, sagte Feely. »Du bist aber auch ungeschickt.«
Ich hatte schon durch das Papier ertastet, dass das Päckchen etwas Weiches enthielt, und das Geschenk im Geiste abgeschrieben. Jeder weiß doch, dass die richtig tollen Geschenke sich immer hart anfühlen. Ohne einen Blick darauf zu werfen, wusste ich, dass Tante Felicitys Liebesgabe sich als Niete erweisen würde.
Wortlos überließ ich Feely das Päckchen.
»Guck mal!«, jubelte sie mit gespielter Begeisterung und fetzte das Papier ab. »Ein Bettjäckchen!«
Sie hielt sich die seidene Scheußlichkeit vor die Brust, als wollte sie das Jäckchen anprobieren. Mit seinen gesteppten Rauten sah das Ding wie die ausrangierte Rettungsweste einer chinesischen Dschunke aus.
»Das Jadegrün passt bestimmt prima zu deinem Teint«, sagte Daffy. »Willst du es gleich anziehen?«
Ich drehte mein Gesicht zur Sofalehne.
»Das nächste Geschenk ist von Vater«, sagte Feely. »Soll ich es aufmachen?«
Ich nahm ihr das Päckchen ab. Auf dem Anhänger stand:
Für: Flavia
Von: Vater
Frohe Weihnachten!
Daneben war ein kleines Rotkehlchen im Schnee abgebildet.
Die Verpackung ließ sich leicht entfernen. Ich hielt ein kleines Buch in der Hand.
»Was ist das?«, wollte Daffy wissen.
»Die Verwendung von Anilinfarben beim Druck britischer Briefmarken: Ein chemiehistorischer Abriss« , las ich vor.
Der liebe Vater. Am liebsten hätte ich gleichzeitig gelacht und geweint. Ich hielt Daffy das Buch hin und dachte rasch daran, mit welcher Spannung ich zum ersten Mal gelesen hatte, dass der große Friedrich August Kekulé, einer der Väter der organischen Chemie, sich das vierbindige Kohlenstoffatom vorgestellt hatte, als er im Pferdeomnibus von Clapham aus nach Hause fuhr. Die Stimme des Schaffners, der laut »Clapham Road!« rief, unterbrach seine Gedankenkette, worauf er seine Offenbarung für volle vier Jahre
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