Vorsatz und Begierde (German Edition)
denn er war überraschend durstig, lehnte aber für beide dankend ab. Die Einladung klang allzu oberflächlich, und ihm war auch ihr schneller Blick auf die Schreibtischplatte nicht entgangen, auf der sich neben einem Schreibmaschinenmanuskript sauber bedruckte Papierseiten stapelten. Es sah aus, als hätten sie sie beim Korrekturlesen gestört. Nun ja, wenn sie ihre Arbeit tun mußte – das mußte er auch. Außerdem ärgerte er sich – unsinnigerweise, wie er fand – über ihre Selbstbeherrschung. Zwar hatte er nicht erwartet, daß sie hysterisch oder wegen übergroßen Kummers mit Beruhigungsmitteln vollgestopft sein würde. Schließlich gehörte das Opfer nicht zu ihrer Familie. Aber die Frau war eine enge Mitarbeiterin von Alex Mair, sie war öfter zu Gast in Martyr’s Cottage und, laut Dalgliesh, dort sogar erst vor vier Tagen zum Dinner eingeladen gewesen. Es war beunruhigend, daß Alice Mair es fertigbrachte, in aller Ruhe Druckfahnen zu korrigieren, eine Arbeit, zu der man zweifellos viel Konzentration benötigte. Der Mord an der Roberts hatte eine beachtliche Unverfrorenheit erfordert. Als Verdächtige zog er Alice nicht wirklich ernsthaft in Betracht; auf ihn wirkte die Tat nicht wie das Verbrechen einer Frau. Doch der Verdacht zwängte sich wie ein Widerhaken in seine Gedanken und setzte sich dort allmählich fest. Eine bemerkenswerte Frau, dachte er. Vielleicht würde diese Vernehmung ja ergiebiger verlaufen, als er es vermutet hatte.
»Sie führen Ihrem Bruder den Haushalt, Miss Mair?« erkundigte er sich.
»Keineswegs. Ich führe mir selbst den Haushalt. Mein Bruder wohnt nur zufällig hier, wenn er in Norfolk ist, und das ist er natürlich während des größten Teils der Woche. Von seiner Wohnung in London aus könnte er das Kraftwerk Larksoken wohl kaum leiten. Wenn ich zu Hause bin und mir etwas zum Dinner koche, ißt er normalerweise mit mir zusammen. Ich bin der Ansicht, es wäre unvernünftig, von ihm zu verlangen, daß er sich selbst ein Omelett macht, nur um das Prinzip geteilter Haushaltspflichten aufrechtzuerhalten. Aber ich verstehe nicht, was mein Haushalt mit dem Mord an Hilary Robarts zu tun haben soll. Könnten wir jetzt vielleicht auf die Geschehnisse des gestrigen Abends zu sprechen kommen?«
Sie wurden unterbrochen: Es klopfte an der Haustür. Alice Mair erhob sich ohne ein Wort der Entschuldigung und ging in den Korridor hinaus. Sie hörten eine hellere, sehr weibliche Stimme, und dann folgte ihr eine Frau in die Küche zurück. Miss Mair stellte sie als Mrs. Dennison vom Alten Pfarrhof vor. Sie war eine hübsche, sanft wirkende Frau, sehr konventionell in Tweedrock und Twinset gekleidet, und machte einen niedergeschlagenen Eindruck. Beides, die ganze Erscheinung wie auch die offenkundige Trauer, wirkten auf Rikkards ausgesprochen sympathisch. So sollte eine Frau nach einem brutalen Mord seiner Meinung nach aussehen und sich verhalten. Die beiden Herren erhoben sich, als sie hereinkam, und sie setzte sich auf Oliphants Sessel, während der Sergeant sich einen Stuhl vom Küchentisch holte. Impulsiv wandte sie sich an Rikkards: »Verzeihen Sie, wenn ich störe, aber ich mußte einfach mal aus dem Haus. Das ist eine entsetzliche Geschichte, Inspector. Sind Sie hundertprozentig sicher, daß es nicht der Whistler gewesen sein kann?«
»Ja. Diesmal nicht, Madam«, antwortete Rikkards.
»Die Zeit stimmt nicht«, erklärte Alice Mair. »Das habe ich dir heute früh gesagt, als ich dich anrief, Meg. Sonst würde die Polizei jetzt nicht herkommen. Es kann nicht der Whistler gewesen sein.«
»Ich weiß, daß du das gesagt hast. Aber ich hatte gehofft, es sei ein Irrtum gewesen, er hätte erst sie umgebracht und dann sich selbst, und Hilary Robarts wäre sein letztes Opfer gewesen.«
»In gewissem Sinne war sie das auch, Mrs. Dennison«, sagte Rikkards.
»Nachahmungstat nennt man so was, glaube ich«, erklärte Alice Mair ruhig. »Es gibt mehr als einen Psychopathen auf der Welt, und diese Art Wahnsinn kann offenbar ansteckend wirken.«
»Gewiß, aber wie grauenhaft! Und nun wird auch dieser Täter weitermachen wie der Whistler, einen Mord nach dem anderen, und niemand kann sich sicher fühlen?«
»Darüber würde ich mir keine Gedanken machen, Mrs. Dennison«, entgegnete Rikkards.
Sie fuhr aufgebracht zu ihm herum. »Aber natürlich mache ich mir Gedanken! Wir müssen uns alle Gedanken machen. Wir haben so lange mit dem Schrecken des Whistlers gelebt, und die Vorstellung,
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