Vorsatz und Begierde (German Edition)
wollte sie ja nicht lange fortbleiben, und den beiden machte es nichts aus, allein zurückzubleiben. Manchmal kam es Meg so vor, als dämpfe das Alter etwaige Ängste. Wenn die Copleys zum Beispiel einen Blick auf das AKW warfen, beschlich sie keine Vorahnung drohenden Unheils. Auch die Greueltaten des Whistlers schienen für sie keine Bedeutung zu haben; sie gingen schlichtweg über ihr Vorstellungsvermögen. Das einzige, was sie in ihrem Leben noch in Aufregung versetzte und eingehend geplant werden mußte, war eine Einkaufsfahrt nach Norwich oder Ipswich.
Das Wetter war herrlich an diesem Nachmittag, viel wärmer als an den zurückliegenden Tagen dieses eher enttäuschenden Sommers. Eine sanfte Brise wehte. Hin und wieder blieb Meg stehen und streckte ihr Gesicht in die sonnenwarme, frische Luft. Der Boden federte unter ihren Füßen, und die Klosterruine im Süden hatte ihre geheimnisvolle Düsterkeit verloren: Goldfarben flirrend hob sie sich von der glatten, tiefblauen See ab.
Meg brauchte nicht zu klingeln. Wie meistens bei schönem Wetter stand die Haustür von Martyr’s Cottage offen. Sie rief nach Alice, wartete, bis diese antwortete, und ging dann durch den Korridor weiter zur Küche. Im Haus wehte ihr ein aromatischer Zitronenduft entgegen, der den heimeligen Geruch von Möbelpolitur, Wein und Holzfeuer übertönte. Der Duft war dermaßen stark, daß er in ihr die Erinnerung an den Urlaub weckte, den sie und Martin in Amalfi verbracht hatten. Hand in Hand waren sie den Serpentinenweg hochgeschlendert, vorbei an den Verkaufsständen mit aufgehäuften Zitronen und Orangen, hatten genüßlich an den Früchten mit ihren großporigen, goldfarbenen Schalen gerochen. Viel gelacht hatten sie, und sie waren glücklich gewesen. Diese golddurchfluteten Bilder in ihrer Erinnerung, die einen Hauch Sonnenwärme auf ihre Wangen zauberten, waren so eindringlich, daß sie einen Augenblick lang unschlüssig vor der Küchentür stand. Dann besann sie sich wieder und richtete den Blick auf die längst vertrauten Gegenstände, den Hackklotz, den Gasherd mit der angebauten Arbeitsfläche, den Tisch aus polierter Eiche in der Mitte des Raums, die vier formschönen Stühle, auf Alices Arbeitsecke mit den Bücherregalen und den Schreibtisch mit dem Stapel von Korrekturbögen. Alice, die einen hellbraunen Kittel trug, stand am Küchentisch.
»Ich mache gerade Zitronencreme, wie du siehst«, sagte sie.
»Alex mag sie hin und wieder ganz gern. Und das ist mir die Mühe wert.«
»Ich kann mich nicht erinnern, daß ich für Martin je eine zubereitet habe. Ich glaube, ich habe sie seit meiner Kindheit nicht mehr gegessen. Meine Mutter hat gelegentlich welche gekauft, damit es sonntags zum Tee etwas Besonderes gab.«
»Wenn deine Mutter sie nur gekauft hat, weißt du nicht, wie sie eigentlich schmecken sollte.«
Meg Dennison lächelte und setzte sich auf den Korbstuhl links vom offenen Kamin. Sie fragte nie, ob sie helfen könne, weil sie wußte, daß ein solches Angebot, das zudem nicht allzu ernst gemeint gewesen wäre, Alice nur irritiert hätte. Hilfe war weder vonnöten noch erwünscht. Aber Meg mochte es, wenn sie still dasitzen und zuschauen konnte. Das hängt wohl mit der Erinnerung an meine Kindheit zusammen, dachte sie, daß es für mich so beruhigend ist und mir soviel Spaß macht, wenn ich einer Frau beim Hantieren in ihrer Küche zusehe. Und wenn dem so ist, sinnierte sie weiter, dann entgeht den Kindern von heute ein weiterer Quell des Trostes in dieser aus den Fugen geratenen, angsteinflößenden Welt.
»Mutter hat nie Zitronencreme gemacht, aber sie kochte gern. Lauter einfache Gerichte.«
»Das sind auch die schwierigsten. Und du hast ihr sicherlich dabei geholfen. Ich kann mir gut vorstellen, wie du, eine Schürze vorgebunden, Männchen aus Lebkuchenteig geformt hast.«
»Wenn sie Kekse machte, gab sie mir immer einen Teigklumpen. Und wenn ich ihn durchgeknetet und ausgerollt hatte, war er regelmäßig schmutzigbraun. Aus dem Teig habe ich dann Plätzchen ausgestochen. Ich habe aber auch Lebkuchenmännchen mit Rosinenaugen gemacht. Du nicht?«
»Nein. Meine Mutter hat nie viel Zeit in der Küche verbracht. Sie war keine gute Köchin. Und die Nörgeleien meines Vaters zerstörten auch den letzten Rest ihres Selbstvertrauens. Er leistete sich eine Zugehfrau aus dem Ort, die täglich die Abendmahlzeit zubereitete. Das war auch die einzige Mahlzeit, die er, außer an Sonntagen, zu Hause einnahm. Da die Frau am
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