Vorsatz und Begierde
Boot gewesen zu sein. Und machte kein Geheimnis aus seinen Gefühlen. Er wollte nicht mit ihr essen, nicht mit ihr trinken, seine Freizeit nicht mit ihr verbringen und nicht mit ihr ins Bett gehen. So aber, erklärte er mir, empfindet er einer Menge Menschen gegenüber, ohne das Bedürfnis zu haben, sie zu ermorden.« Er hielt einen Moment inne; dann fuhr er fort: »Dr. Mair hat Sie am Freitag vormittag durch das Kraftwerk geführt, nicht wahr?«
»Hat er Ihnen das erzählt?« fragte Dalgliesh.
»Dr. Mair hat mir überhaupt nichts erzählt, was er mir nicht erzählen mußte. Nein, es kam heraus, als wir uns über eine der jüngeren Angestellten unterhielten, ein junges Mädchen aus dem Ort, das im Personalbüro arbeitet. Redseliges kleines Ding. Ich hab viel Brauchbares aus ihr herausgeholt. Aber ich frage mich, ob bei Ihrem Besuch dort eventuell etwas geschehen ist, was wichtig sein könnte.«
Dalgliesh widerstand der Versuchung, ihm zu antworten, wenn das der Fall gewesen wäre, hätte er es längst berichtet. Statt dessen sagte er: »Es war ein interessanter Besuch, und das Werk ist wirklich eindrucksvoll. Dr. Mair hat mir den Unterschied zwischen einem Wärmereaktor und dem neuen Druckwasserreaktor zu erklären versucht. Das meiste, was er mir erzählte, waren technische Details, nur einmal hat er kurz von Lyrik gesprochen. Miles Lessingham zeigte mir die große Lademaschine für die Brennelemente, von der sich Toby Gledhill in den Tod gestürzt hat. Flüchtig kam mir der Gedanke, Gledhills Selbstmord könnte etwas mit dem Mord zu tun haben, aber ich wüßte wirklich nicht, wie. Das Thema wirkte eindeutig deprimierend auf Lessingham, und zwar nicht nur, weil er dabei war. Bei der Dinnerparty der Mairs gab es einen recht mysteriösen Wortwechsel zwischen ihm und Hilary Robarts.«
Rikkards beugte sich, das Whiskyglas in der riesigen Pranke, neugierig vor. Ohne aufzublicken, sagte er: »Diese Dinnerparty bei den Mairs. Wie ich vermute, steht diese gemütliche kleine Geselligkeit – falls sie denn gemütlich war – im Mittelpunkt unseres Falles. Und dazu wollte ich Sie etwas fragen. Deswegen bin ich im Grunde hier. Dieses Kind, Theresa Blaney – wieviel genau hat sie von dem Gespräch über das letzte Opfer des Whistlers mitgekriegt?«
Diese Frage hatte Dalgliesh erwartet. Erstaunt war er nur, daß Rikkards so lange gebraucht hatte, um sie zu stellen.
Sehr behutsam antwortete er: »Einiges ganz zweifellos. Das habe ich Ihnen bereits gesagt. Wie lange sie hinter der Eßzimmertür gestanden hat, bevor ich sie bemerkte, und wieviel sie wirklich von dem Gespräch gehört hat, kann ich Ihnen aber leider nicht sagen.«
»Erinnern Sie sich, wie weit Lessingham mit seinem Bericht gekommen war, als Sie Theresa sahen?«
»Nicht genau. Ich glaube, er beschrieb die Leiche und das, was er sah, als er mit seiner Taschenlampe wiederkam.«
»Dann hätte sie also das mit der Schnittwunde auf der Stirn und den Schamhaaren durchaus hören können.«
»Aber hätte sie ihrem Vater von den Haaren erzählt? Ihre Mutter war eine sehr fromme, römisch-katholische Frau. Ich kenne die Kleine nicht näher, aber ich kann mir vorstellen, daß sie außergewöhnlich schamhaft ist. Würde ein behutsam erzogenes, schamhaftes Mädchen einem Mann, selbst ihrem Vater, so etwas erzählen?«
»Behutsam erzogen? Schamhaft? Sie hinken sechzig Jahre hinter der Zeit her, mein Lieber. Gehn Sie mal für eine halbe Stunde auf den Schulhof irgendeiner höheren Schule; da werden Sie Dinge hören, die Ihnen die Haare zu Berge stehen lassen. Die Kinder von heute würden jedem alles erzählen.«
»Dieses Kind nicht.«
»Na schön, aber sie hätte ihrem Dad von dem L-förmigen Schnitt erzählen und er hätte die Sache mit den Haaren erraten können. Verdammt noch mal, jeder wußte doch, daß die Morde des Whistlers eine sexuelle Bedeutung hatten. Er hat sie nicht vergewaltigt, aber das war es auch nicht, was ihm Befriedigung verschaffte. Man braucht nicht unbedingt Krafft – wie hieß der noch?«
»Krafft-Ebing.«
»Klingt wie ein Käse. Man braucht nicht Krafft-Ebing zu sein, man braucht nicht mal sexuell erfahren zu sein, um zu erraten, was für Haare sich der Whistler genommen hat.«
»Aber wenn Sie Blaney als Hauptverdächtigen einstufen, ist dies ein sehr wichtiger Punkt, nicht wahr?« entgegnete Dalgliesh. »Würde er, würde irgend jemand auf diese Art töten, wenn er nicht ganz sicher war, wie die Whistler-Methode aussah? Nur wenn er
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