Vorsatz und Begierde
Sie meines Erachtens nicht werden erschüttern können.«
»Aber er hat ihr keins gegeben, oder?« entgegnete Rikkards. »Sie behauptet, bis kurz nach halb 10, als sie losfuhr, um das Porträt abzuholen, allein im Martyr’s Cottage gewesen zu sein. Sie und diese Haushälterin aus dem Alten Pfarrhof, Mrs. Dennison, sind die einzigen, die auf der Dinnerparty der Mairs waren und nicht versuchten, ein Alibi vorzubringen. Und sie hat ein Motiv. Hilary Robarts war die Geliebte ihres Bruders. Ich weiß, er hat uns erklärt, das sei beendet, aber dafür haben wir nur sein Wort. Angenommen, die beiden wollten heiraten, sobald er nach London geht. Sie hat ihr ganzes Leben dem Bruder geopfert. Unverheiratet. Kein Ventil für ihre Emotionen. Warum gerade in dem Moment einer anderen Frau den Platz räumen, da Mair ans Ziel seiner ehrgeizigen Pläne gelangt?«
Dalgliesh hielt dies für eine allzu einfache Erklärung einer Beziehung, die ihm selbst bei seiner so flüchtigen Bekanntschaft mit den beiden weit komplizierter zu sein schien. »Sie ist eine erfolgreiche Schriftstellerin«, hielt er seinem Kollegen vor. »Ich kann mir vorstellen, daß Erfolg eine ganz eigene Art von emotionaler Erfüllung bringt – immer vorausgesetzt, sie braucht das. Mir schien sie durch und durch selbständig zu sein.«
»Ich dachte, sie verfaßt Kochbücher. Nennen Sie das eine erfolgreiche Schriftstellerin?«
»Alice Mairs Bücher sind überall geschätzt und äußerst einträglich. Wir beide haben denselben Verleger. Wenn der zwischen uns wählen müßte, würde er vermutlich lieber auf mich verzichten.«
»Dann meinen Sie also, diese Heirat könnte für sie fast eine Entlastung sein, sie von Verantwortlichkeiten befreien? Soll doch eine andere zur Abwechslung mal für ihn kochen und sorgen?«
»Warum sollte er eine Frau brauchen, die für ihn sorgt? Es ist gefährlich, Theorien über Menschen und ihre Gefühle aufzustellen, doch ich bezweifle, daß sie diese Art häusliche, quasi mütterliche Verantwortlichkeit empfindet und daß er sie entweder braucht oder wünscht.«
»Wie sehen Sie es denn, dieses Verhältnis? Die beiden leben schließlich zusammen, jedenfalls meistens. Sie ist vernarrt in ihn, das scheint allgemein bekannt zu sein.«
»Sie würden kaum zusammen leben, wenn das nicht der Fall wäre – falls man das als Zusammenleben bezeichnen kann. Sie ist viel verreist, wie ich hörte, recherchiert für ihre Bücher, und er besitzt eine Wohnung in London. Wie kann jemand, der die beiden nur einmal gemeinsam erlebt hat, und das bei Tisch auf einer Dinnerparty, den Kern ihres Verhältnisses zueinander erforschen? Ich würde sagen, es gab da Loyalität, Vertrauen, gegenseitige Achtung. Fragen Sie sie.«
»Aber nicht Eifersucht, auf ihn oder seine Geliebte?«
»Wenn ja, versteht Miss Mair sie ausgezeichnet zu kaschieren.«
»Nun gut, Mr. Dalgliesh, versuchen wir’s mit einem anderen Szenario. Angenommen, er hatte genug von der Robarts, angenommen, sie drängt ihn, sie zu heiraten, will den Job hinschmeißen und mit ihm nach London ziehen. Angenommen, sie wird ihm lästig. Würde Alice Mair da nicht das Gefühl haben, eingreifen zu müssen?«
»Etwa einen einzigartig klug ersonnenen Mord zu planen und auszuführen, um ihrem Bruder aus einer vorübergehenden Verlegenheit zu helfen? Hieße das nicht, die schwesterliche Hingabe überzustrapazieren?«
»Oh, aber das sind doch keine vorübergehenden Störfaktoren, diese fest entschlossenen Frauen, nicht wahr? Überlegen Sie mal. Wie viele Männer kennen Sie, die man zu Ehen gezwungen hat, von denen sie im Grunde nichts wissen wollten, nur weil der Wille der Frau stärker war als der ihre? Oder weil sie dieses ständige Getue nicht ertragen konnten, die Tränen, die Vorwürfe, die moralische Erpressung?«
»Mit dem Verhältnis selbst hätte sie ihn wohl kaum erpressen können«, widersprach Dalgliesh. »Keiner von beiden war verheiratet; sie haben niemanden betrogen; sie erregten keinen Anstoß in der Öffentlichkeit. Und ich kann mir niemanden vorstellen, weder weiblich noch männlich, der Alex Mair zu etwas bringen könnte, was er nicht will. Ich weiß, es ist gefährlich, voreilig zu urteilen, obwohl wir das in den letzten fünf Minuten beide getan haben, aber mir scheint er ein Mann zu sein, der ein Leben nach seinem eigenen Geschmack führt und vermutlich immer geführt hat.«
»Wobei er bösartig werden könnte, wenn ihn jemand daran zu hindern versuchte.«
»Dann sehen Sie
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