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Vorsatz und Begierde

Vorsatz und Begierde

Titel: Vorsatz und Begierde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: P. D. James
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Geist seines Vaters drängte sich ihm auf beim Gewirr des spätsommerlichen Laubs, beim Fallen welker Blätter, bei herbstlichen Gerüchen, die ihm in die Nase stiegen. Er hätte gern gewußt, ob das auch Alice passierte. Doch bei all ihrer Zuneigung füreinander, trotz des Gefühls, sie seien untrennbar miteinander verbunden, würde er ihr diese Frage nie stellen.
    Es gab auch Fragen – zumindest eine –, die sie ihm niemals stellen würde. Sie interessierte sich nicht im geringsten für sein Sexualleben. Er war psychologisch so weit bewandert, daß er sich vorstellen konnte, was jene frühen, beschämenden, angsteinflößenden Erlebnisse in ihr angerichtet haben mochten. Manchmal hatte er den Eindruck, sie beobachte seine Affären mit der beiläufigen, amüsierten Nachsicht eines Menschen, der gefeit war gegen solche kindischen Schwächen, sie aber bei anderen Menschen nicht mißbilligen wollte. Nach seiner Scheidung hatte sie ihm einmal gesagt:
    »Weißt du, ich finde es absonderlich, daß ein so simpler, wenn auch ungeschlachter Vorgang, der das Überleben unserer Spezies sichert, die Menschen in einen derartigen Aufruhr versetzt. Muß man denn Sex so wichtig nehmen?« Er überlegte, ob sie von Amy wußte, etwas ahnte. Als nun der flammendrote Sonnenball dem Meer entstieg, schien die Zeit rückwärts zu laufen. Er lag abermals, wie fünf Tage zuvor, in der tiefen Mulde in den Dünen, roch wieder den Sand, das Gras, nahm den Salzgeschmack des Meeres wahr, während die Wärme des Spätnachmittags sich in der herbstlichen Luft allmählich verflüchtigte. Alles fiel ihm wieder ein, jedes Wort, jede Geste, das Timbre ihrer Stimme. Er spürte, wie sich die Härchen auf seinen Armen emporrichteten, als sie ihn zu liebkosen begann.

17
    Den Kopf auf die Hand gestützt, drehte sie sich ihm zu. Er sah, wie das nachmittägliche Sonnenlicht ihr kurzgeschnittenes, helles Haar mit einem Goldschimmer überstäubte. Die Luft wurde merklich kühler. Er wußte, die Zeit des Abschieds war gekommen. Aber er blieb neben ihr liegen, lauschte dem Gluckern der Wellen und blickte durch die nickenden Grashalme zum Himmel empor. Was ihn erfüllte, war nicht die Traurigkeit nach einem Liebesakt, sondern eine wollüstige Trägheit, als erstrecke sich der eingeplante Sonntagnachmittag noch endlos vor ihnen.
    »Ich muß jetzt gehen«, sagte Amy. »Ich habe Neil versprochen, ich würde nicht länger als eine Stunde wegbleiben. Wegen des Whistlers regt er sich immer auf, wenn ich mich verspäte.«
    »Der Whistler mordet nur nachts und nicht bei hellem Tageslicht«, erwiderte er. »Und hier auf die Landzunge wagt er sich bestimmt nicht. Hier findet er zu wenig Deckung. Aber Pascoe hat recht, wenn er sich Sorgen macht. Zwar ist die Gefahr nicht groß, aber du solltest dich nachts nicht allein im Freien aufhalten. Solange der Mörder nicht gefaßt ist, sollte das keine Frau wagen.«
    »Ich wünschte, sie würden ihn endlich schnappen. Dann hätte Neil einen Grund weniger, sich Sorgen zu machen.«
    »Fragt er denn nie«, erkundigte er sich betont beiläufig, »wohin du gehst, wenn du dich am Sonntagnachmittag davonstiehlst und er sich um das Kind kümmern muß?«
    »Nein, er fragt nie. Und das Kind hat einen Namen: Timmy. Außerdem stehle ich mich nicht davon. Ich sage ihm, daß ich weggehe, und gehe dann.«
    »Macht ihn das nicht stutzig?«
    »Das schon. Aber er meint, daß jeder Mensch das Recht auf ein Privatleben hat. Er würde mich gern fragen, wird es aber nie tun. Manchmal sage ich: ›Okay, ich hau jetzt ab, um mit meinem Liebhaber in den Sanddünen zu bumsen.‹ Aber auch darauf sagt er nichts. Er verzieht nur das Gesicht, weil ihm das Wort ›bumsen‹ nicht gefällt.«
    »Warum machst du so was? Warum quälst du ihn? Wahrscheinlich liebt er dich.«
    »Nein, aus mir macht er sich nicht viel. Er liebt Timmy. Und was für einen Ausdruck sollte ich denn sonst verwenden? Wir gehen doch nicht miteinander ins Bett. Das haben wir nur einmal getan, bei dir zu Hause. Und da warst du schreckhaft wie eine Katze, weil du Angst gehabt hast, deine Schwester könnte unerwartet heimkommen. Man kann auch nicht sagen, wir schlafen bloß zusammen.«
    »Wir geben uns einander hin«, schlug er vor. »Oder wir kopulieren, wenn dir das besser befällt.«
    »Das klingt gräßlich, Alex! Ehrlich! Ein scheußliches Wort.«
    »Und was treibst du mit ihm? Schläfst du mit ihm? Gehst du mit ihm ins Bett? Gibst du dich ihm hin? Oder kopulierst du mit

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