Vorsatz und Begierde
Wert stieg ohnehin mit jedem Monat. Die Miete wurde ja gezahlt, und sie mußte kein Geld zusetzen. Und was zählten schon der tägliche Verdruß am Arbeitsplatz, die berufsbedingten Eifersüchteleien, die Mißstimmungen? Dieses Leben war bald zu Ende. Sie liebte Alex, und Alex liebte sie. Er würde einsehen, daß sie recht hatte. Sie würden heiraten. Und sie würden ein Kind bekommen. Sie konnten sich so viele Wünsche erfüllen. Einen Augenblick lang überkam sie eine so tiefe Ruhe, daß selbst all das keine Bedeutung mehr hatte. Es schien ihr, als wären sämtliche menschlichen Gelüste entschwunden und sie würde von ihrem Körper losgelöst dahinschweben, sich im Mondlicht von oben sehen. Sie hatte Mitleid mit dem erdverbundenen Geschöpf da unten, das nur in einem ihm fremden Element diese tiefe, wenn auch flüchtige Ruhe finden konnte.
Dann war es Zeit zur Umkehr. Sie warf sich herum und schwamm kraftvoll dem Strand entgegen, hin zu dem Menschen, der sie beobachtete und ihr im Baumschatten auflauerte.
21
Am Sonntag vormittag besuchte Dalgliesh wieder einmal die Kathedrale von Norwich und St. Peter Mancroft. Danach suchte er ein Restaurant am Stadtrand auf, wo man ihm und seiner Tante vor zwei Jahren ein ausgezeichnetes gutbürgerliches Essen vorgesetzt hatte. Doch auch hier hatte sich mittlerweile manches geändert. Das äußere Erscheinungsbild und die Inneneinrichtung waren dieselben wie früher, doch mußten sowohl der Besitzer als auch der Koch gewechselt haben, wie sich bald herausstellte. Das Essen, das mit bedenklicher Eilfertigkeit serviert wurde, schien anderswo zubereitet und hier nur aufgewärmt worden zu sein. Die gegrillte Leber, eine gräulich-braune Scheibe mit grobkörniger Oberfläche, schwamm in einer undefinierbaren, zähflüssigen Soße. Die Kartoffeln waren teilweise nicht gar, während der Blumenkohl verkocht schmeckte. Es war kein Imbiß, der einen Wein verdient hätte. Dalgliesh stärkte sich mit Cheddar-Käse und ein paar Zwiebackscheiben, bevor er aufbrach, um die aus dem fünfzehnten Jahrhundert stammende St.-Peter-and-Paul-Kirche in Salle aufzusuchen.
In den vergangenen vier Jahren war er mit seiner Tante öfters nach Salle gefahren. In ihrem Testament hatte sie bestimmt, daß er ihre Asche ohne jegliche Zeremonie auf dem dortigen Friedhof verstreuen sollte. Er hatte zwar gewußt, daß sie der Kirche verbunden war, aber fromm war sie eigentlich nicht gewesen, weswegen ihn auch dieser Wunsch ein wenig befremdet hatte. Eher hätte er angenommen, daß sie sich ausbedingen würde, man solle ihre irdischen Reste irgendwo auf der Landzunge verstreuen, oder daß sie überhaupt keine Anweisungen festlegen würde, weil sie derlei nur im Hinblick auf eine möglichst zweckmäßige Beseitigung sah, für die weder sie noch er Vorkehrungen treffen müßte. Doch nun hatte er diese Aufgabe zu erfüllen, die ihm zudem, was ihn verdutzte, bedeutsam vorkam. In den letzten Wochen hatten ihn hin und wieder Schuldgefühle geplagt, als hätte er einer Pflicht nicht genügt und die Seele der Toten unerlöst gelassen. Schon früher hatte es ihn verwundert, wieviel Wert die Menschen auf Rituale legten, so daß jeder Lebensabschnitt von einer Zeremonie begleitet sein mußte. Möglicherweise war auch seine Tante dieser Ansicht gewesen und hatte auf ihre bedächtige Art dafür vorgesorgt. Bei Felthorpe verließ er die B 1149 und fuhr übers flache Land. Er brauchte sich nicht anhand der Straßenkarte zu orientieren. Der mächtige, im fünfzehnten Jahrhundert erbaute Glockenturm mit seinen vier Spitztürmen war ein unübersehbares Wahrzeichen dieser Gegend, und Dalgliesh fuhr auf den nahezu leeren Straßen darauf zu, als wäre er auf dem vertrauten Weg nach Hause. Merkwürdig war nur, daß seine Tante mit ihrer sehnigen Gestalt nicht neben ihm saß, daß alles, was von diesem eigenständigen, aber dennoch beeindruckenden Menschen übriggeblieben war, sich in dem erstaunlich schweren, mit weißer, grobkörniger Masse angefüllten Kunststoffbehälter befand. In Salle angekommen, parkte er den Jaguar unweit der Zufahrt und ging dann zum Friedhof. Abermals beeindruckte ihn, daß diese stattliche Kirche, fast schon ein Dom, die so abgeschieden lag, dennoch zu dem freien Gelände paßte und nicht ehrfurchtgebietend, sondern friedvoll wirkte. Er blieb eine Weile stehen und lauschte, hörte aber keinen Laut. Kein Vogel sang, kein Käfer krabbelte raschelnd durchs hohe Gras. Im weichen, schon herbstlichen
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