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Vorsatz und Begierde

Vorsatz und Begierde

Titel: Vorsatz und Begierde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: P. D. James
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verblüfft, daß sie einmal ausgesprochen hübsch gewesen war. Ihr Tod hatte ihn nun in eine Voyeursrolle versetzt, die sie beide, als sie noch lebte, widerwärtig gefunden hätten. Aber sie hatte die Bilder nicht vernichtet. Sie, die Realistin, die sie gewesen war, mußte damit gerechnet haben, daß später einmal andere Menschen die Bilder sehen würden. Oder hatte das hohe Alter mit seiner zunehmenden Distanz gegenüber allen fleischlichen Vorsätzen und Begierden sie von jenen kleinlichen Bedenken befreit, die aus Eitelkeit oder Selbstüberschätzung erwachsen? Mit einem Gefühl von Widerwillen, ja von Verrat, warf er die beiden Photographien ins Feuer und sah zu, wie sie sich krümmten, schwarz färbten, aufflammten und zu Asche wurden.
    Und was sollte er mit all den nicht näher bezeichneten, ihm fremden Leuten anfangen? Mit den korsettierten Damen und ihren ausladenden Hüten mit Bändern und Blumen? Mit Aufnahmen von Radpartien, die Herren in Knickerbockern, die Damen mit langen, glockenförmigen Röcken und kecken Strohhüten? Mit den abgelichteten Hochzeitsgesellschaften, die Braut samt Ehrenjungfern kaum zu erkennen hinter all den üppigen Blumensträußen, die Hauptpersonen streng hierarchisch gruppiert? Sie alle schauten in die Kameralinse, als könnte das Klicken des Verschlusses die Zeit anhalten, sie zumindest bannen, als wollten sie kundtun, eine Vermählung sei nun mal eine bedeutsame Angelegenheit, weil sie die unentrinnbare Vergangenheit mit der unvorhersehbaren Zukunft verknüpfte. Als Halbwüchsiger war Dalgliesh vom Phänomen der Zeit geradezu besessen gewesen. Schon Wochen vor den Sommerferien hatte er ein Gefühl des Triumphes verspürt, weil er nun Macht über die Zeit hatte, denn endlich konnte er sagen: »Zeit, wenn du rasch vergehst, kommen eben die Ferien eher. Verstreichst du aber langsam, dauert der Sommer desto länger!« Jetzt, als Mann mittleren Alters, kannte er keine Kniffe, keine bevorstehenden Vergnügungen mehr, mit denen er die unaufhaltsam dahinrasende Zeit hätte zügeln können. Er fand eine Photographie, die ihn in seiner Internatsmontur zeigte; sein Vater hatte sie im Pfarrgarten gemacht. Er sah einen fremden Jungen, der, herausgeputzt mit einer Kappe und einem gestreiften Blazer, in einer fast militärischen Haltung dastand und in die Kamera starrte, als wollte er seiner Angst vor dem Verlassen des Elternhauses trotzen. Auch diese Photographie warf er ohne Bedauern ins Feuer.
    Als das Cello-Konzert zu Ende und die Rotweinflasche ausgetrunken war, stapelte er die restlichen Photographien aufeinander, verstaute sie in der Schreibtischschublade und beschloß, seine melancholische Stimmung durch einen Spaziergang am Meer loszuwerden. Der Abend war viel zu schön, als daß man ihn mit trübsinnigen oder schwermütigen Gedanken vergeuden sollte. Es war windstill draußen. Selbst das Rauschen des Meeres, das im Licht des Vollmonds und der Sterne geheimnisvoll schimmernd dalag, war kaum zu hören. Er verharrte einen Augenblick unter den Windmühlenflügeln und ging dann mit ausholenden Schritten in nördlicher Richtung, vorbei an den Kiefern, über die Landzunge und bog nach einer Dreiviertelstunde zum Strand ab. Er glitt den sandigen Abhang hinab und sah vor sich die schon halb im Schwemmsand versunkenen Betonbunker, aus denen wie bizarre Antennen rostbedeckte Baueisenstangen in die Luft ragten. Helles Mondlicht überflutete den Strand. Plötzlich überkam ihn der Wunsch, die Wellen an seinen Füßen zu spüren. Er zog Schuhe und Socken aus, stopfte die Socken in seine Sakkotasche, band die Schuhe an den Schnürsenkeln zusammen und hängte sie sich um den Hals. Nach dem anfänglichen Kältegefühl kam ihm das Meer fast warm vor. Er stapfte durch das seichte Wasser, blieb hin und wieder stehen, um, wie in seiner Kindheit, seine Fußspuren zu betrachten. Schließlich kam er zu dem Kiefernwäldchen. Er wußte, daß da ein Pfad war, der an Hilary Robarts’ Cottage vorbei zur Straße führte. Von hier aus konnte er auf die Landzunge gelangen, ohne die brüchigen Klippen im Süden hinaufklettern zu müssen. Er setzte sich auf einen großen Stein, wischte sich mit dem Taschentuch die Sandkörner von den Füßen, zog Socken und Schuhe an und ging über den angeschwemmten Kies zum sandigen Saum des Strandes hinüber.
    Hier bemerkte er, daß anscheinend jemand vor ihm dagewesen war: Links von ihm verlief eine Spur von nackten Füßen. Das war sicherlich Hilary Robarts gewesen, die ihr

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