Vorsatz und Begierde
Sonnenlicht standen die Bäume da, als seien sie goldfarben überstäubt worden. Die Zeit des Pflügens war vorbei, und die Äcker mit ihrer dunkelbraun glänzenden Scholle erstreckten sich in der sonntäglichen Stille bis zum Horizont. Dalgliesh schlenderte gemächlich um die Kirche herum, spürte das Gewicht des Behälters, der seine Sakkotasche herunterzog, und war froh, daß er für seinen Besuch die Zeitspanne zwischen den Gottesdiensten gewählt hatte. Vielleicht wäre es höflicher, ja sogar angebracht gewesen, die Zustimmung des Gemeindepfarrers einzuholen, bevor er den Wunsch seiner Tante erfüllte. Doch dann sagte er sich, daß es dafür jetzt ohnehin zu spät war; zudem ersparte er sich auf diese Weise allerlei Erklärungen und unnötige Komplikationen. Am Ostrand des Friedhofes öffnete er den Behälter und schüttete, als ob er ein Trankopfer darbrächte, das zermahlene Gebein aus. Es blitzte silbrig auf, und dann überstäubte das, was von Jane Dalgliesh noch übriggeblieben war, die herbstlich spröden Wildkräuter und das hohe Gras. Er wußte, welche Worte nun angebracht waren; er hatte sie von seinem Vater oft genug gehört. Aber dann fiel ihm der Vers aus dem Prediger Salomo ein, der in die Gedenktafel an Martyr’s Cottage eingemeißelt war, und er schien Dalgliesh hier an diesem Ort, wo die Zeit keine Bedeutung hatte, nicht unpassend zu sein.
Das Westportal war unverschlossen. Bevor er Salle verließ, nahm sich Dalgliesh noch eine Viertelstunde Zeit, um noch einmal die Sehenswürdigkeiten in der Kirche zu bewundern, das eichene Schnitzwerk des Gestühls mit seinen Bauernfiguren, Pfaffen, Rindern, Vögeln, dem Drachen und dem Pelikan, der seine Jungen nährt, dann die mittelalterliche Kanzel in Form eines Weinglases, die nach fünfhundert Jahren noch Überreste der ursprünglichen Bemalung aufwies, das Altargitter, das große Ostfenster, in dem einst rote, grüne, blaue Glasornamente geprangt hatten und durch das nun das klare, ungefilterte Licht von Norfolk einfiel. Als dann das Westportal hinter ihm sachte ins Schloß fiel, fragte er sich, ob er jemals wiederkehren würde.
Am frühen Abend war er daheim. Sein Mittagessen lag ihm noch so schwer im Magen, daß er keinen großen Hunger verspürte. Er wärmte den Rest der Suppe vom Vortag auf und aß hinterher noch Zwieback, Käse und etwas Obst. Danach zündete er das Kaminfeuer an, rückte den niedrigen Sessel davor, legte ein Cello-Konzert von Elgar auf und begab sich daran, die Photographien seiner Tante zu sichten. Behutsam schüttelte er sie aus den vergilbten Umschlägen und breitete sie auf dem niedrigen Mahagonitischchen aus. Während er die Bemerkungen auf den Rückseiten las, sich hin und wieder eines Gesichts, eines da abgelichteten Vorfalls entsann, geriet er allmählich in eine melancholische Stimmung. Elgars Musik paßte dazu. Die schwermütigen Tonfolgen beschworen die langen, heißen Sommer zur Zeit König Edwards herauf, die er nur aus Romanen und Gedichten kannte, den Frieden, der damals in England herrschte, das Selbstwertgefühl, den Optimismus, all das, was seine Tante durchlebt haben mußte. Er sah ihren Verlobten, der trotz seiner Hauptmannsuniform noch blutjung wirkte. »4. Mai 1918« stand auf der Photographie. Das war eine Woche vor seinem Tod gewesen. Dalgliesh musterte das hübsche, unbekümmerte Gesicht, die Augen, die schon soviel Greuel gesehen haben mußten, aber all das sagte ihm nichts. Auf der Rückseite standen ein paar mit Bleistift geschriebene griechische Worte. Der junge Mann hatte in Oxford Altphilologie studiert; seine Tante hatte Altgriechisch bei ihrem Vater gelernt. Adam Dalgliesh beherrschte es nicht; was immer die Worte bedeuteten, es würde ihm ein Geheimnis bleiben. Die Hand, die die mittlerweile verblichenen Buchstaben geschrieben hatte, war längst verwest. Im selben Kuvert steckte noch eine Photographie, die seine Tante in etwa dem gleichen Alter zeigte. Vielleicht hatte sie sie ihrem Verlobten an die Front geschickt oder sie ihm geschenkt, als er eingezogen wurde. Eine Ecke wies einen braunroten Fleck auf. Könnte das ein Blutspritzer sein? Vielleicht hatte seine Tante die Photographie zusammen mit Gegenständen, die ihrem Verlobten gehört hatten, zurückerhalten. Sie trug einen knöchellangen Rock und eine hochgeschlossene Bluse. Sie lachte. Ihr Haar fiel schulterlang herab und war über den Schläfen festgesteckt. Sie hatte schon immer ein markantes Gesicht gehabt; jetzt sah Dalgliesh
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